meine werte (schluss)
: Das Leben findet einen Weg

Der Zettel hing über dem Bett an der Wand. Die Buchstaben, die K. mit Filzstift darauf geschrieben hatte, waren betont eckig. „Alles zum Kotzen“, stand da. Es waren die späten Siebzigerjahre. In London war der Punk erfunden worden, und in Deutschland wurde die „Null-Bock-Generation“ ausgerufen. Eng und dunkel war die Welt. Und K. fürchtete, dass die Kälte dieses Zettels in ihm bis zu seinem Absterben sein werde.

Doch die Wirklichkeit hat dann anders für ihn entschieden. Irgendwann war nur noch Himmel über ihm – und kein Atomschild, von dem in seiner Jugend noch selbstverständlich gesagt wurde, wegen ihm dürfe man keine Kinder in die Welt setzen. Mauern fielen. K. erfuhr, auch das, die Liebe. Er bekam Kinder, sah Sonnenuntergänge über vielen Meeren dieser Erde, und was für ein Triumph, als er mitbekam, dass Adorno ein Lebemann und Womanizer war: Der Bescheidwisser und große Negativist war den kleinen Freuden also durchaus zugetan. Prima. All das, beziehungsweise das, wofür diese Chiffren stehen: das Leben, bewirkte, dass die Buchstaben auf dem Zettel verblassten. Buchstäblich. Irgendwann, bei einem Umzug möglicherweise, ging das Papier dann verloren. Vielleicht ja gerade zu der Zeit, als K. in einem Buch den schönen Satz las: „Das Leben findet einen Weg.“ Denn das tat es. Dass alles zum Kotzen sei, hat K. nie wieder behauptet, möchte die Erinnerung daran aber bewahren. Es ist gut zu wissen, woher man kommt.

Mit Werten hat diese kleine, erbauliche Geschichte noch nicht direkt zu tun. Aber sie bildet einen Hintergrund dafür, dass K. Menschen, die von Werten reden, am liebsten sofort direkt ins Gesicht sehen möchte. Es kommt darauf an, wie man über sie redet. Solche Wörter werden halt leicht zu Phrasen und zu Panzern gegen das Leben. Aber ein bisschen Pathos darf manchmal schon sein – weil es doch gut ist und man auch daran arbeiten soll, dass nicht alles zum Kotzen ist –, und bei manchen Wörtern hört man an den Wallungswerten, dass die Sprecher damit den drei kalten Wörtern auf K.s Zettel entkommen wollen. Dann ist es gut.

Es gibt drei andere Wörter, die K. heute manchmal gern auf einen Zettel schreiben und an die Wand hängen würde. Sie lauten Kontingenz, Ironie und Solidarität. Wenn man so will, bilden sie seine Werte. Und ein Lieblingssatz stammt, wie die Verbindung dieser drei neuen Wörter auch, von Richard Rorty (der den amerikanischen Pragmatisten John Dewey referiert): „Doch der einzige Zweck der Gesellschaft bestand für ihn darin, Subjekte hervorzubringen, die immer neue und reichere Formen menschlichen Glücks erleben könnten.“ Immer, wenn er diesen Satz liest, freut sich K., dem damaligen Zettel entronnen zu sein.

So viel dazu. DIRK KNIPPHALS