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Archiv-Artikel

Um die Zukunft betrogen

PROTESTE Das westukrainische Lemberg tickt traditionell europäisch. Vor allem hier regt sich daher Widerstand gegen den Regierungskurs einer Abkehr vom Westen

„Es könnte eine Neuauflage der Orange Revolution von 2004 geben“

ANDREY NESTERKO, JOURNALIST

AUS LEMBERG UND BERLIN JURI DURKOT UND BARBARA OERTEL

Die ukrainische Opposition macht weiter Druck. Auch am Montag gingen in Kiew und anderen Städten des Landes wieder Tausende auf die Straße, um für einen prowestlichen Kurs der Ukraine zu demonstrieren. Einige Kundgebungsteilnehmer versuchten, in den Sitz der Regierung einzudringen, wurden aber von Sicherheitskräften daran gehindert. Bereits am Sonntag war es im Zentrum der Hauptstadt zu den größten Protesten seit der seit der Orange Revolution von 2004 gekommen.

Die Demonstranten reagieren auf den – am vergangenen Donnerstag verkündeten – Beschluss der Regierung, ein unterschriftsreifes Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union auf Eis zu legen. Die Kiewer Politiker begründeten diese Entscheidung unter anderem mit der Notwendigkeit, die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland „wiederzubeleben“. Ebenfalls am Donnerstag waren mehrere Gesetzentwürfe, die der inhaftierten und schwer erkrankten Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko eine medizinische Behandlung im Ausland ermöglicht hätten, im Parlament abgelehnt worden. Die Freilassung Timoschenkos ist eine zentrale Bedingung der EU für die Unterzeichnung des Abkommens.

Der Boxweltmeister und Chef der oppositionellen Partei Udar (Schlag), Vitali Klitschko, sagte am Montag, die Protestaktionen würden so lange weiter gehen, bis der Assoziierungsvertrag unterzeichnet sei. Für den Abend kündigte er eine Großkundgebung an.

Führende Politiker anderer Oppositionsparteien forderten die Absetzung der Regierung und vorgezogenen Neuwahlen. Sogar Rufe nach der Einleitung eines Absetzungsverfahrens gegen Präsident Wiktor Janukowitsch wegen Verrat der nationalen Interessen der Ukraine wurden laut. „Die Ukrainer wollen Veränderungen und sind zu allem bereit. Wenn das Abkommen mit der EU nicht unterzeichnet wird, könnte es eine Neuauflage der Orange Revolution von 2004 geben“, sagt der Journalist Andrey Nesterko.

„Das Gefühl der Zusammengehörigkeit ist wieder da“

Wie enttäuscht viele Ukrainer sind, zeigt sich in Lemberg, wo seit Tagen Tausende auf die Straße gehen: Hier setzt sich am Montag ein Zug von Studenten vor der Technischen Universität in Richtung Innenstadt in Bewegung. Unterwegs kommen immer neue junge Leute dazu, bald sind es etwa 10.000 Demonstranten, die die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union fordern: „Lemberg ist für Europa! – Studenten sind eine Macht!“, hört man immer wieder aus den Reihen. „Diese Regierung hat uns um unsere Zukunft betrogen“, sagt Halyna, eine Studentin der Nationalen Universität. Für den Nachmittag haben die Demonstranten zu einem Generalstreik aufgerufen.

Die Protestwelle hat am Freitag begonnen. Die Studenten sehen ihre Zukunft und die Zukunft ihres Landes in Europa. Dabei können sie sich der Rückendeckung seitens der Uni-Rektoren sicher sein. In einer gemeinsamen Erklärung haben die Universitäten und Hochschulen in Lemberg den Studenten freie Hand für ihre Aktionen gegeben. „Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, es ist wieder da. Irgendwie erinnert mich das an die Situation vor neuen Jahren“, sagt ein älterer Herr.

Wieder bringen Autos und Busse Menschen aus Lemberg nach Kiew, die dort auf dem Platz der Unabhängigkeit (Maidan) oder auf dem Europaplatz demonstrieren wollen. Immer wiederholen sich dieselben Spielchen – die Busunternehmen weigern sich unter Druck der Behörden, nach Kiew zu fahren, die Autos werden auf den Straßen von der Polizei aufgehalten.

Doch es hat sich auch etwas verändert: Die Demonstranten stellen andere Forderungen. Man verlangt nicht nur den Rücktritt der Regierung. In Lemberg will man auch den vor Kurzem ernannten Gouverneur absetzen, der 2004 bei der Orange Revolution Polizeichef der Region war. Unklar ist noch, wie die Machthabenden reagieren werden. Klar ist nur, dass sich wieder etwas tut.

Nur: Heute will man keine Parteifahnen sehen, in Lemberg sind es überwiegend ukrainische und Europafahnen. Man will auch keine Politiker unterstützen. Die Studenten wollen überhaupt keine Politiker sehen, denn sie wollen nicht, dass die Politiker ihren Protest für Parteiinteressen missbrauchen.

Ob sie sich mit ihrer naiven Romantik durchsetzen können, steht in den Sternen. Auf jeden Fall wird ein Vertreter der nationalistischen Partei Swoboda (Freiheit) ausgebuht, als er versucht, auf der Bühne eine lange Rede zu halten. Beleidigt beschimpft er die jungen Leute als „Bengel“, muss dann aber die Bühne verlassen.

Ein aufgeregter Bekannter läuft vorbei, gerade ist er ins Wiener Kaffeehaus eingekehrt. „Wir müssen schnell improvisieren und eine Leinwand aufstellen, damit man hier live sehen kann, was in Kiew läuft. Die Kolonne biegt in den Prospekt Swobody ein, den Freiheitsboulevard, die Hauptstraße von Lemberg. „Do kincja, do kincja!“ (Bis zum Ende!), ertönt es dort auf dem Platz vor dem Grand Hotel. Die Parole soll die Entschlossenheit der mittlerweile etwa 20.000 Demonstranten zeigen.

Es ist eng auf dem Platz, viele Menschen stehen auf dem Sockel des Denkmals für den Nationaldichter Taras Schewtschenko. Das Wetter hat sich verschlechtert, es schneit mittlerweile, man steht im nassen Matsch. Ein paar Zelte sind schon aufgebaut, in einem davon können sich Freiwillige für eine Fahrt nach Kiew eintragen. Allen Gerichtsurteilen zum Trotz. Denn die Gerichte in Lemberg und in Kiew haben zwar Proteste erlaubt, aber das Aufstellen der Zelte verboten, wohl wissend, dass man es bei diesen Temperaturen ohne Zelt nicht lange aushalten kann. Das Urteil soll angefochten werden.

Unterdessen werden die Töne aus Brüssel schärfer. Im Streit um die EU-Annäherung der Ukraine erhoben EU-Kommissionschef José Manuel Barroso und EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy am Montag schwere Vorwürfe gegen Russland. „Wir missbilligen die Haltung und Handlungen Russlands scharf“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärungen. Gleichzeitig sei das Angebot an die Ukraine, das Partnerschafts- und Handelsabkommen zu unterzeichnen, noch auf dem Tisch.