: Beinahe eine große Oper
Vergessen und wieder ausgegraben: Vincenzo Bellinis „Zaira“ im Gelsenkirchener Musiktheater
VON FRIEDER REININGHAUS
„Ich hab‘ einen Moslem als Freund“, steht auf der Leuchttafel an der Einfallstraße, die zum Opernhaus in Gelsenkirchen-Schalke führt. Sie wirbt für die neue Produktion des Musiktheaters im Revier – für „Zaira“, Vincenco Bellinis tragedia lirica. Tatsächlich bildet das, was da auf der Werbefläche so aktuell klingt und lockt, auch den harten Kern einer alten orientalischen Liebes-Tragödie: Eine in Gefangenschaft geratene Tochter aus gutem Haus, so der Plot, verliebt sich in einen von der falschen Sorte. Sie, christlich erzogen, hat die Blicke des muslimischen Staatsoberhaupts auf sich gezogen und erwidert mit ganzer Seele die Zuneigung des Herrschers.
Dieser Sultan Orosmane hat, zusammen mit anderen besiegten fränkischen Kreuzrittern, auch Lusignan in Gewahrsam, der sich im 12. Jahrhundert kurzfristig zum König von Jerusalem aufgeschwungen hatte – bis dahin folgte Voltaires Tragödie von 1732, die Felice Romani für Bellini zum Libretto arrangierte, einigermaßen den historischen Tatsachen. Dann aber kam das Trauerspiel der Damenwelt freizügig entgegen und fabulierte von den Herzensverhältnissen Zairas im zentralen Harem des Heiligen Landes. Zufällig kommt an jenem Tag, an dem sie sich mit Haut und Haar dem attraktiven Despoten verbindet, Nerestano mit dem Lösegeld für die seit fünfzehn Jahren eingekerkerten Kreuzritter aus Frankreich zurück, und ebenso zufällig stellt sich heraus, dass er Zaires Bruder ist und der sterbenskranke Lusignano der Vater der beiden. Der Exkönig nimmt der Tochter einen Eid ab: dass sie, koste was es wolle, zum Glauben ihrer Väter zurückkehre. Er stürzt sie damit in einen heillosen Konflikt zwischen Kindespflicht und Herzensneigung, die sie vergeblich zu unterdrücken versucht. Angestiftet vom orthodoxen Wesir wittert der Sultan Liebesverrat, verdächtigt sie einer heimlichen Liebschaft mit Nerestano. Am Ende ersticht Orosmane die Favoritin, den falschen Ratgeber und sich selbst.
Der Regisseur Dieter Kaegi wollte die alte Geschichte entschieden modernisieren, tat dies jedoch nur oberflächlich. Vielleicht war er ja gut beraten, dass er Bellinis verunglückte Oper nicht dazu benutzt, eine Geschichte wie die der im Irak in Gefangenschaft geratenen Susanne Osthoff zu erzählen, sondern eine unwirkliche Fabel in der Hülle des heutigen Alltags der orientalischen Oberschicht. Das, was Stefanie Pasterkamp als Einheitsraum für die wechselnden Spielorte bereitstellte, erinnerte mit drei weiß-geplättelten Säulen, Aufzugecke und dem Sofa auf rotem Podest an Hotelarchitektur in Ost-Jerusalem und eine Hochzeitsfeier der dortigen Upper-Class. Nicolai Karnolsky erscheint als steinreicher Scheich des Jahres 2006 ebenso glaubwürdig wie Hrachnuhí Bassénz in der Titelpartie als dessen Braut. Indem später die Intervalle zwischen den Säulen mit großen dunklen Vorhängen zugezogen werden, stellt sich das Dunkel ein, das die Autoren des Werks für die finale nächtliche Haremsgarten-Szene vorsahen. Die „Zaire“-Premiere am MIR unter Leitung von Kai Tietje gewann nach anfänglichen Unsicherheiten an Präzision und Überzeugungskraft, auch wenn die Bass-Schlagkraft des Sultans recht beschränkt blieb und der armenischen Sopranistin Bassénz nicht alle Koloraturen ganz makellos gelingen wollten. Zusammen mit Leah Gordon in der Hosenrolle des Nerestano sorgten sie für ein insgesamt gutes musikalisches Niveau der Produktion. Das Stück selbst erscheint nicht schlechter gemacht als das meiste, was Rossini oder Bellini zuvor gefertigt hatten. Aber wer zu spät kommt, den bestraft eben das Leben: Bei der Uraufführung, anlässlich der Einweihung des Nuovo Teatro Ducale von Parma im Mai 1829 wurde „Zaide“ keineswegs positiv aufgenommenen. Bellini hatte zwar – nicht anders als mit „La straniera“ kurz zuvor und „I Capuleti e i Montecchi“ gleich danach – seine an sich sehr geschätzte leicht verdauliche Konfektionsware und Kraftfutter für bel canto geliefert. Bei „Zaira“ aber hatten er und sein Librettist Romani aufs falsche Pferd gesattelt und in der Kategorie „Kreuzritteroper“ eben einen Nachzügler geliefert, obwohl das Publikum dieser glaubensgenährten Geschichten aus dem hohen Mittelalter bereits ebenso überdrüssig war wie der im 18. Jahrhundert noch so beliebten „Türken-Opern“.
Der Komponist unterließ es in den ihm verbleibenden sechs Lebensjahren, sein Schmerzenskind umzuarbeiten und doch noch im Markt zu platzieren (er schlachtete die Partitur aus, insbesondere für die Romeo-und-Julia-Oper). Erst mit der Wiedererweckung des Werks vor drei Jahrzehnten in Catania, wo Bellini 1801 auf die Welt gekommen war, wurde die Opernwelt wieder auf „Zaide“ aufmerksam. Der Versuch, sie nun auch nördlich der Alpen vorzustellen und nach Möglichkeit heimisch zu machen, ist aller Ehren Wert. Gerade auch wegen des voltaireschen Kerns der Handlung, der unsinnige und grässliche Folgen religiöser Borniertheit vor Augen führt und beiläufig für Toleranz in Glaubensfragen plädiert.
Heute, 19:30 UhrInfos: 0209-4097200