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Archiv-Artikel

Die Sehnsucht nach Verschmelzung

Was liegt im Auge des Bären – der göttliche Funke oder die Gleichgültigkeit der Natur? Die Geschichte eines Naturschützers, der Jahre seines Lebens den Alaskabären widmete, hat Werner Herzog in „Grizzly Man“ dokumentiert

13 Sommer hat Timothy Treadwell unter Bären verbracht. 13 Sommer lang hat er sein Zelt auf Kodiak Island, in einem Nationalpark in Alaska, aufgeschlagen. Manchmal begleitete ihn eine Freundin in die menschenleere Gegend, manchmal war er allein unterwegs. Seine Familie, seine Freunde, seine Sehnsuchtsobjekte waren ohnehin die Bären. Er nannte sie Grizzlys; das Lexikon führt sie als Alaska- oder Kodiakbären. Es sind Braunbären, die bis zu 700 Kilogramm wiegen und drei Meter messen, wenn sie sich aufrichten.

Treadwell, radikaler Tierschützer, geläuterter Alkoholiker und gescheiterter Schauspieler, der mit bürgerlichem Namen Timothy Dexter hieß, sprach mit diesen Bären und verehrte sie. Er ließ sie so nah an sich heran, dass er sie berühren konnte. Und er filmte sie mit einer Videokamera. Das Footage ist faszinierend – egal, ob sich Treadwell selbst in Szene setzt, während die Bären im Hintergrund friedlich auf einer Weide grasen wie Kühe auf einer Alm, ob sie im Wildbach nach Lachsen tauchen oder zwei männliche Exemplare mit solcher Wucht und Aggressivität um ein Weibchen ringen, dass es einem den Atem verschlägt. Als Treadwell später den Schauplatz des Kampfes inspiziert, liebkost er ausgerissene Fellbüschel, und andächtig filmt er den Kot, den einer der Bären im Eifer ausschied.

Im 13. Sommer reiste Treadwell wie in den Jahren zuvor Ende September ab – die Winter verbrachte er, indem er bei Auftritten in Schulen und Talkshows, etwa in David Lettermans Late Show, für die Sache der Grizzlys warb. Am Flughafen entschied er sich spontan, nicht zurück nach Kalifornien zu reisen. Zusammen mit seiner Geliebten Amie Huguenard fuhr er noch einmal in den Katmai National Park. Ihr Zelt stellten die beiden mitten im Dickicht auf, es war schon Anfang Oktober, die Bären, die Treadwell kannte, waren in der Zwischenzeit weitergezogen, andere Bären waren da, hungrige Bären, die sich Winterspeck anfressen mussten.

Am 5. Oktober 2003 greift ein älteres, männliches Tier Treadwell an, Huguenard versucht den Angreifer zu verjagen. Vergeblich, das Tier tötet beide. Als es am folgenden Tag von Parkwächtern erlegt wird, finden diese in seinem Verdauungstrakt Körperteile von Treadwell und Huguenard. Auf eine unheimliche Art erfüllt sich, was Treadwell in seiner Weltabgewandtheit, in seinem Hass auf die Menschen und deren Zivilisation, in seinen todessehnsüchtigen Augenblicken wollte: sich als Mensch auslöschen, sich aufgeben, Teil des Bären werden, selbst Bär zu werden.

Treadwells Auffassung von Tierschutz war schon zu seinen Lebzeiten umstritten. Konventionell arbeitende Naturschützer stießen sich an seiner Naivität, an seinem Geltungsdrang, an seiner Verklärung der Bären. Sie sahen in seinem Tod die zwingende Konsequenz seines Verhaltens. Eine Erklärung dafür, dass die Koexistenz von Mensch und Bär 13 Sommer lang gut ging, haben sie nicht. Der Filmemacher Werner Herzog hat Treadwells Geschichte und dessen Videomaterial genutzt, um den hinreißenden Dokumentarfilm „Grizzly Man“ zu drehen und zu montieren. Leider hat „Grizzly Man“ – in den USA im vergangenen Sommer gestartet – noch keinen deutschen Verleih, die DVD ist als Import zu beziehen. Herzog begegnet Treadwell mit Sympathie, auch wenn er ihm längst nicht in allem folgen mag. Am Ende montiert der Filmemacher ein Close-up aus Treadwells Footage in den Film. Es zeigt das Gesicht eines Bären, der möglicherweise Treadwells und Huguenards Mörder war. In diesen Augen, sagt Herzog aus dem Off, habe Treadwell einen göttlichen Funken erblickt. Er erkenne darin nur die Gleichgültigkeit der Natur. CRISTINA NORD