: Zurück nach Bosnien
SYRIEN Die Opposition gegen Assad war von Anfang an verloren. Der Westen hält Stabilität wieder für wichtiger als den Schutz der Zivilbevölkerung
■ ist Ressortleiter Inland der taz. Zuletzt veröffentlichte er an dieser Stelle einen Debattenbeitrag über die Aufarbeitung der grünen Pädophilie-Geschichte der achtziger Jahre: „Am Pranger“ (taz vom 19. September 2013).
Auf dem Flugplatz in Beirut hatten sich Dutzende schiitische Kämpfer und Mullahs eingefunden, um ihren Helden zu begrüßen: den Entführer eines Fluges aus Zypern, der die Besatzung mit einer Cola-Flasche, angeblich mit Benzin gefüllt, gekapert hatte. Dann wankte der alte Mann aus der Maschine. Offensichtlich ein geistig Verwirrter, in der Flasche befand sich sein eigener Urin. Die Mullahs zerstreuten sich auf dem Weg nach Hause.
Mitte der achtziger Jahre waren Flugzeugentführungen zum Trend in Beirut geworden: Manche demonstrierten damit gegen schlechte Arbeitsbedingungen, eine Maschine wurde aus Protest gegen eine andere Flugzeugentführung gehijackt, die hier war das Werk eines Gestörten. Aber wie sollte man nach zehn Jahren Bürgerkrieg noch unterscheiden, wo der Irrsinn anfing und wo er aufhörte?
Nur mit Zynismus
Robert Fisk erzählt diese vergessenen Episoden aus dem libanesischen Bürgerkrieg in seinem großartigen Buch „Pity the Nation“. Fisk hilft gegen allzu naiven Optimismus, vielleicht ist er nur mit einer gewissen Freude an politischem Zynismus zu lesen, daran, wie mit jedem Rettungsversuch alles schlimmer wird. Zur Zeit der Entführungen war die westliche Friedensmission im Libanon längst gescheitert.
Der Brite ist heute ein vielleicht etwas dogmatisierter Gegner westlicher Interventionen im Nahen Osten. Seine wichtigste Argumentationslinie muss man ernst nehmen: die der fehlenden Konsistenz westlicher Außenpolitik, des raschen Wechsels von Begründungen, Strategien, Bündnissen. Nicht aufgrund veränderter Situationen in den islamischen Staaten, sondern neuen Verhältnissen im Westen.
Auch vor dem Syrienkonflikt haben sich diese verändert: Der Westen, dem der Irak- und Afghanistan-Einsatz noch in den Knochen saß, hatte kein Interesse an einem neuen Konfliktherd; zudem hatten die außenpolitischen Beziehungen zu Russland und Iran sowie die Stabilität Israels Vorrang. Hinzu kam ein unbegründeter Optimismus, diesmal aufseiten der Interventionsgegner.
Jetzt, wenige Tage vor der Syrien-Konferenz, lohnt es sich, noch einmal all die Fehleinschätzungen nachzulesen, die den Konflikt begleitet haben. Assad „kann nicht mehr gewinnen“, schrieb etwa Volker Perthes, Direktor der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im März 2012. Die SWP-Expertin Muriel Asseburg warnte Ende 2011 vor den Folgen einer militärischen Intervention „Bereits die Ermutigung der bewaffneten Opposition durch die Androhung einer solchen“ dürfte „die Situation für die Bevölkerung verschlimmern“.
Vorbild Libyen
Hätte es mit einer Intervention a là Libyen schlimmer kommen können als heute, mit 130.000 Toten, neun Millionen Flüchtlingen, Islamisten, die ganze Landstriche kontrollieren, und Assad, der fester als 2012 im Sattel sitzt? Perthes spricht mittlerweile von der Möglichkeit, dass es „Staaten mit unklaren Grenzen und verschiedene Warlord-Emirate geben“ könnte, „die sich über eine Dekade bekriegen werden“ – und hofft auf eine Lösung a là Libanon: Dort seien „am Ende alle Seiten so erschöpft“ gewesen, „dass sie verhandelten“. Das war 1990, nach 15 Jahren Bürgerkrieg. Eine militärische Intervention lehnt er ab.
Die stünde an, nähmen die Vereinten Nationen ihr neueres „Responsibility to Protect“-Konzept ernst. Demnach sind Staaten verpflichtet, ihre Bevölkerung vor Kriegsverbrechen zu schützen, die internationale Gemeinschaft hat das Recht, militärisch zu intervenieren, falls die Staaten dabei scheitern. Das Konzept hat den Vorteil, sich gegenüber Interventionen zwecks „regime change“ abzugrenzen, und den kaum zu vermeidenden Nachteil, die Frage, wer darüber entscheiden soll, nicht befriedigend lösen zu können. In der Resolution, die der UN-Weltgipfel 2005 beschloss, ist der Sicherheitsrat als Entscheidungsgremium benannt – was bedeutet, dass es in Syrien angesichts der russischen Interessen keine UN-gestützte Intervention geben wird.
Aber das größere Hindernis für einen Einsatz liegt im Westen. 20 Jahre nach Ruanda und Bosnien ist die Debatte um Interventionen wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen. Im Bosnienkrieg war die Situation ähnlich wie heute: mit einer USA, die nach dem Somalia-Desaster kriegsmüde waren, und mit Deutschland, das grundsätzlich nicht zu Militäreinsätzen bereit war. Erst nach Srebrenica intervenierte der Westen so intensiv, dass der Konflikt in wenigen Wochen beendet werden konnte. Der rasche Erfolg verleitete zum Kosovokrieg und den Kriegen in Afghanistan und Irak, die beide auch humanitär begründet wurden, aber die restriktiven Anforderungen von „Responsibility to Protect“ nicht erfüllen. Die zynische Pointe heißt: Weil die USA den Irak von außen demokratisieren wollten, sahen sie sich jetzt außerstande, der selbst organisierten Demokratiebewegung in Syrien zu helfen.
Eine akademische Frage
Mittlerweile ist die Frage nach einem Militäreinsatz zu einer akademischen geworden. Die syrische Opposition hat 2012 die Einrichtung von Flugverbotszonen gefordert. Was damals richtig gewesen wäre, ist angesichts der Dominanz der islamistischen Rebellen, die vom Nichtstun des Westens profitiert haben, jetzt obsolet. Solche Einsätze setzen voraus, dass die davon profitierende Opposition mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht verheerender agieren wird als die Regierungsarmee.
Im Westen dürften jetzt diejenigen Oberhand gewinnen, die Assad als Garanten für Stabilität in Syrien betrachten. Den Syrern droht damit nicht nur eine Wiederholung des libanesischen Schlamassels, sondern auch eine Wiederholung der Erfahrung, die die irakischen Schiiten am Ende des zweiten Golfkrieges machen mussten: Zunächst von den USA zum Aufstand ermuntert, setzten sich dann die Stabilitätsbefürworter in der US-Administration durch. Der Aufstand wurde von Saddam Hussein niedergeschossen. Wer in der arabischen Welt zukünftig eine demokratische Revolution anzetteln will, sollte sich frühzeitig erkundigen, ob im Westen gerade wieder Demokratieexport oder stabilitätsorientierte Realpolitik angesagt ist. Es könnte Leben retten. MARTIN REEH