: Das arme Hamburg bleibt sitzen
VOLKSENTSCHEID Direkte Demokratie heißt im Fall des Schulstreits in der Hansestadt: Die Privilegierten bestimmen, wer auch künftig ausgeschlossen sein soll. Die Analyse einer soziodemografischen Ungerechtigkeit
■ 27, Politikwissenschaftler, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Projektgruppe „Education and Transitions into the Labour Market“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Er schrieb seine Diplomarbeit zur Hamburger Schulreform an der Freien Universität Berlin.
VON BENJAMIN EDELSTEIN UND MARCEL HELBIG
Eine feine Sache, so ein Volksentscheid. Wirkliche, gelebte Demokratie – eben weil sie direkt wirkt, sagen viele. Was das aber in Wirklichkeit bedeuten kann, zeigte sich am Sonntag in Hamburg. Dessen Bürger sollten darüber entscheiden, ob die Kinder der Stadt in Zukunft vier oder sechs Jahre gemeinsam lernen. Was herauskam: Das Bildungsbürgertum vereinbarte mit sich selbst, dass jenen, die nicht dazugehörten, weiterhin eine Möglichkeit verwehrt bleibt, ihren Bildungsrückstand etwas aufzuholen und ihre Startchance ein wenig zu verbessern.
Hamburg hat in Sachen sinnvoller Schulreform in Deutschland seit langem die Nase vorn. Manche schulpolitische Neuerung nahm in Hamburg ihren Ausgang: ein starker Ausbau der Gesamtschulen, die Zusammenführung von Haupt- und Realschulen zu integrierten Haupt- und Realschulen, die Integration behinderter Schüler in Regelklassen und die Etablierung eines empirisch fundierten Schulmonitoring schon 1995. Auch aktuell ist Hamburg Vorreiter bei den Bemühungen, ein gerechteres Schulsystem zu etablieren. So wurde eine deutliche Reduzierung von Klassenwiederholungen („Sitzenbleiben“) und Abschulungen anvisiert, ein Zweisäulenmodell zum Abitur beschlossen, bei dem es nur noch das Gymnasium und die Stadtteilschule geben soll. Zudem sollte auf Initiative des schwarz-grünen Senats das Elternwahlrecht abgeschafft und die Grundschule um zwei Jahre verlängert werden (Primarschule).
Die heutige Aufteilung der Schüler auf unterschiedliche Schulformen nach einer nur vierjährigen gemeinsamen Grundschulzeit ist im internationalen Vergleich nahezu einzigartig. Nicht nur die Vereinten Nationen kritisieren den deutschen Sonderweg als sozial selektiv. Mit der Verlängerung der gemeinsamen Grundschulzeit in der neuen Primarschule wollte der schwarz-grüne Senat den Weg in Richtung eines gerechteren Schulsystems beschreiten.
Die Sortierfunktion
Wir wissen aus der Forschung, dass Kinder nach der Grundschule sozial selektiv auf die weiterführenden Schulen überwiesen werden. Auch bei gleicher Leistung sind Kinder aus höheren Schichten viereinhalbmal häufiger auf dem Gymnasium vertreten als Kinder aus bildungsfernen Schichten. Eltern aus höheren Schichten wissen um die Sortierfunktion des Schulsystems. Sie wissen, dass das Abitur ein entscheidender Schlüssel für die optimale Nutzung von Lebenschancen ist.
Mit einer um zwei Jahre verlängerten Grundschulzeit kann man die soziale Abhängigkeit des Gymnasialbesuchs nicht ganz aufheben. Aber ein Stück weit kann die verlängerte gemeinsame Lernzeit helfen, soziale Ungleichheiten zu nivellieren. So zeigte sich beim letzen Bundesländervergleich des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), dass die soziale Abhängigkeit des Gymnasialbesuchs in Brandenburg und Berlin am geringsten ist. In beiden Bundesländern gibt es die sechsjährige Grundschule.
Die Verlängerung der Grundschulzeit sollte also vor allem Kindern aus bildungsfernen Schichten helfen, das Schulsystem erfolgreich zu durchlaufen und dadurch ihre Chancen auf sozialen Aufstieg zu verbessern. Für bildungsnahe Eltern bedeutet die Verlängerung der Grundschulzeit indessen, dass ihre Kinder zwei Jahre länger mit den Schmuddelkindern in eine Klasse gehen müssen – und das wollen sie um keinen Preis.
Seit Gründung der Bundesrepublik wurde immer wieder um das „richtige“ Schulsystem gestritten, aber selten mit so harten Bandagen. Und das, obgleich sich alle in der Hamburger Bürgerschaft vertretenen Parteien hinter die Primarschulpläne des Senats gestellt haben. Dieser parteiübergreifende Konsens ist in Deutschland bislang einzigartig: Einen kurzen Augenblick lang sah es tatsächlich so aus, als sei der alte ideologische Graben in der Frage des längeren gemeinsamen Lernens zumindest in Hamburg überwunden.
Doch der von Schwarz-Grün geplanten Primarschulreform stellte sich umgehend die neu gegründete Volksinitiative „Wir wollen lernen“ entgegen. Durch ihr offensives Auftreten konnte sie den Senat dazu bewegen, das im neuen Schulgesetz abgeschaffte Elternwahlrecht wiederherzustellen. Denn in der Abschaffung des Elternwahlrechts vermutete der Senat die wesentliche Ursache für die überraschend große Zustimmung zur Beantragung des Volksentscheids über die Primarschulreform. Der Senat versuchte noch, den Konflikt mit der Volksinitiative zu entschärfen und einen für beide Seiten akzeptablen Kompromiss zu finden. Dies scheiterte nach fünf erfolglosen Verhandlungsrunden, so dass am Ende nur noch der Volksentscheid blieb. Durch den Volksentscheid wurde nun ein wichtiger Teil des schwarz-grünen Schulreformprojekts gekippt – die Primarschule.
■ 29, Soziologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Projektgruppe „Education and Transitions into the Labour Market“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Er forscht zum Wandel geschlechtstypischen Bildungserfolgs in Deutschland und zum Einfluss des Bildungsföderalismus auf soziale Ungleichheiten.
Wer aber hat darüber entschieden, dass es bei einer frühen Trennung der Schüler bleibt? Eine Gruppe kann man bei dieser Frage schon einmal ausschließen: Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft durften beim Hamburger Volksentscheid nicht abstimmen. Allerdings besitzen circa 15 Prozent aller Schüler auf Hamburgs Schulen nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Es wurde also eine ganze Bevölkerungsgruppe, deren Kinder direkt von der Reform betroffen wären, von der Teilnahme an der Entscheidung ausgeschlossen. Gerade diese Kinder hätten von der Verlängerung der Grundschulzeit wohl am meisten profitiert.
Zudem unterschied sich die Wahlbeteiligung der Wahlberechtigten in den 100 Hamburger Stadtteilen sehr stark. In Billbrook nahmen nur 10 Prozent der Stimmberechtigten ihr Wahlrecht wahr. Dieser Stadtteil hat den höchsten Anteil von Hartz-IV-Beziehern. In Nienstedten gaben hingegen 55 Prozent ihre Stimme ab; Nienstedten ist der Stadtteil mit dem höchsten durchschnittlichen Einkommen. Dieses Bild zeigt sich für die gesamte Stadt. In den Stadtteilen mit einer hohen Arbeitslosenquote beziehungsweise mit einem hohen Anteil von Hartz-IV-Empfängern wie Veddel, Wilhelmsburg und Harburg war die Wahlbeteiligung extrem niedrig. In den gutbürgerlichen Stadtteilen mit einem sehr hohen durchschnittlichen Einkommen wie Blankenese, Othmarschen und Wellingsbüttel war die Wahlbeteiligung dagegen am höchsten. Weiter fällt auf, dass in den Stadtteilen mit einem hohen Anteil von über 65-jährigen die Wahlbeteiligung ebenfalls besonders hoch lag. Überraschenderweise lässt sich kein Zusammenhang zwischen dem Anteil der Kinder in einem Stadtteil und der Wahlbeteiligung feststellen. Direkt Betroffene nahmen also ihr Wahlrecht keineswegs überdurchschnittlich häufig wahr.
Wer entschied nun also über das Schicksal der Primarschule? Nicht diejenigen, deren Kinder wohl am meisten von der Reform profitiert hätten – denn die blieben der Abstimmung zu großen Teilen fern. Offenbar ist es den Befürwortern der Primarschule nicht gelungen, diese Gruppe zu erreichen. Die Einführung der Primarschule wurde also im Wesentlichen von sozial Bessergestellten abgelehnt.
■ Die Schulreformgegner haben sich am Sonntag im Volksentscheid gegen die Einführung sechsjähriger Primarschulen klar durchgesetzt. Eine große Mehrheit der Bürger folgte dem Vorschlag der Reformgegner um die Initiative „Wir wollen lernen“, die die vierjährigen Grundschulen beibehalten wollen. Hierfür stimmten 276.304 Bürger, nur 218.065 sprachen sich für die von allen Parlamentsparteien beschlossenen sechsjährigen Primarschulen aus. ■ Aufgerufen zum Volksentscheid waren fast 1,3 Millionen Bürger. Die Wahlbeteiligung beim ersten verbindlichen Volksentscheid der Hansestadt lag bei 39 Prozent. 64.600 Menschen kamen in eines der rund 200 Abstimmungslokale. Die große Mehrheit – 427.000 Menschen – hatte sich zuvor schon per Brief für oder gegen die Schulreform entschieden.
Die Bildungsferne
Der Hamburger Volksentscheid zeigt einen neuen Aspekt von Bildungsungleichheit auf. Bekannt ist, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten in ihrer Schullaufbahn kaum auf Unterstützung durch ihre Eltern zurückgreifen können. Hinzu kommt nun aber, dass ihre Eltern nicht einmal für ein gerechteres Schulsystem mit ihrer Stimme eintreten, wenn sie dazu die Gelegenheit haben.
Es ist die Stärke der repräsentativen Demokratie, dass die Interessen von Minderheiten und sozial Schwachen geschützt werden. Wie wir unser Schulsystem gestalten, ist Frage des Gemeinwohls. Lassen wir über das Schulsystem in einem Volksentscheid abstimmen, ist dieses Gemeinwohl faktisch jenen ausgeliefert, die ihre Interessen zu schützen in der Lage sind. Hamburg hat gezeigt, dass bei einem Volksentscheid die Interessen der weniger Privilegierten übergangen werden. Auch wenn bildungsferne Schichten sich nicht darüber im Klaren sind, was das Beste für ihre Kinder ist, muss es Aufgabe der Politik sein, sich gerade um diese Kinder zu kümmern und eine offenkundig ungerechte Situation endlich zu ändern.
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