: Langsamer und weniger regieren
VOLKSENTSCHEIDE Eine kleine Geschichte der Schweiz und ihrer sehr gemischten Erfahrungen mit der direkten Partizipation
VON RUDOLF WALTHER
Mit den Rechten des Volkes in der Demokratie ist es wie mit den Messern. Volksrechte und Messer sind für ganz unterschiedliche Zwecke einsetzbare Instrumente. Mit Messern kann man große Brocken zu mundgerechten Stücken zurechtschneiden, aber auch Menschen töten. Mit den Volksrechten kann man die Demokratie vertiefen, aber auch ad absurdum führen. In Hamburg verteidigte das Justemilieu der Gucci-Demokraten seine Bildungsprivilegien gegen eine Demokratisierung der Schule. In Bayern gelang es, dank einer Volksabstimmung die Nichtraucher im öffentlichen Raum zu schützen. Volksrechte sind unberechenbar.
Selbst wenn man das ändern möchte, braucht man das Volk dazu. Regierungen, Parlamente und anderes Personal im politischen Betrieb kann man in dafür vorgesehenen Verfahren auswechseln, das Volk nicht. Es ist da, und es ist – zumindest in einer direkten Demokratie – der Souverän. Als Souverän sorgt das Volk dafür, dass Entscheidungen und Nichtentscheidungen des gewählten Personals überprüft und korrigiert werden, damit nicht eine juristische Fiktion bleibt, was die Demokratie verspricht: nämlich, dass alle darüber mitentscheiden, was alle betrifft, damit sich jede und jeder in einer Demokratie als virtueller Mitautor der geltenden Gesetze fühlen kann.
Der einzige Staat, der auf eine längere Erfahrung mit der direkten Demokratie zurückblicken kann, ist die Schweiz. Mit der Bundesverfassung von 1848 wurden das Referendum für Verfassungsveränderungen sowie das Recht für Verfassungsinitiativen eingeführt. Die Verfassungsrevisionen von 1874 und 1891 ergänzten diese beiden Volksrechte durch das Gesetzesreferendum und die Gesetzes- bzw. Volksinitiative. In der Praxis erwiesen sich diese Volksrechte als ambivalent – sie dienten oft der Zementierung des Status quo und der Absicherung von Besitzständen, sie konnten aber auch die Demokratie erweitern und vertiefen.
Gegen Juden und Minarette
Der Bundesstaat von 1848 beruhte auf einer Allianz der altliberalen Elite aus Besitzenden und Gebildeten – ein Ancien Régime von quasiaristokratischem Zuschnitt. Die Erweiterung der Demokratie war ein Ergebnis des Kampfes von Demokraten und Sozialdemokraten um die Verfassungsrevisionen von 1874 und 1891. Schon 1866 erzielte die demokratische Opposition einen Erfolg mit einer Verfassungsänderung, die den Juden die rechtliche Gleichstellung brachte. Fast gleichzeitig verstärkten sich in Frankreich und im entstehenden Bismarckreich die antisemitischen Bewegungen und Kampagnen! Wie die jüngste Volksabstimmung über ein Bauverbot von Minaretten, das den Ruf der Schweiz weltweit zu Recht verschlechterte, zeigt, ist die Stimme des Volkes keine Rückversicherung und keine Garantie gegen ebenso falsche wie reaktionäre Entscheidungen.
Mögliche Fehlentscheidungen des Volks sind aber kein Argument dafür, das souveräne Volk gar nicht erst zu befragen und einfach über seine Köpfe hinweg Gesetze zu machen und zu regieren. Die Bilanz der Volksentscheide in der Schweiz seit 1848 kann sich – trotz krasser Fehlentscheide – sehen lassen.
In den 162 Jahren gab es genau 555 Volksentscheide – also 3,4 Abstimmungen pro Jahr, was die populäre Legende widerlegt, Bürgerinnen und Bürger würden überfordert oder gelangweilt durch die „permanente Mobilmachung“ für oder gegen ein politisches Vorhaben. Bei den 555 Volksentscheiden handelte es sich um 169 Gesetzesinitiativen – also Forderungen von unten. Davon waren ganze 16 erfolgreich.
Viel häufiger waren Referenden, also Volksabstimmungen gegen Gesetze, die im parlamentarischen Verfahren eine Mehrheit kriegten, aber bei Teilen der Bürgerinnen und Bürger auf Opposition stießen. Von 386 Referenden waren in 162 Jahren 250 erfolgreich. Das politische Personal in Parlament und Regierung wurde also vom Souverän ziemlich oft zurückgepfiffen. Auch hier sind die Resultate durchwachsen.
Das erfuhren am stärksten die Frauen. Die Schweizer Männer stimmten in kantonalen und landesweiten Abstimmungen zwischen 1919 und 1971 mehrmals gegen die politische Gleichberechtigung der Frauen. Erst bei der Abstimmung vom 7. Februar 1971 stimmten zwei Drittel der Männer für, ein Drittel gegen das Stimm- und Wahlrecht der Frauen. Diese Kulturschande klebt an Vätern und Großvätern der heute erwachsenen Schweizer Männer auch lange über ihren Tod hinaus.
Aus den Resultaten der letzten Volksabstimmungen über das Bauverbot für Minarette schließen manche Kommentatoren gern, die direkte Demokratie öffne der Fremdenfeindlichkeit und dem Rassismus prinzipiell den Weg. Das ist ein Kurzschluss. Nach der ersten gescheiterten Volksabstimmung über die Ausweisung von Ausländern 1922 gab es nach 1945 mehrere „moderatere“ Vorstöße in dieser Richtung. Sie fanden allesamt keine Mehrheit.
Wenn man die Geschichte der direkten Demokratie insgesamt betrachtet, gibt es keinen Grund für Euphorie, aber auch keinen für Schwanengesänge und Trauermärsche: Erstens: Volksentscheide haben einen Doppelcharakter aus konservativen und innovativen Zügen, wobei die konservativen eindeutig dominieren. Von den 27 Initiativen die zwischen 1891 und 1968 von linken Gruppierungen bzw. Parteienbündnissen lanciert wurden, waren ganze zwei erfolgreich. Zweitens: Von den konservativen Zügen der direkten Demokratie profitieren auch aufgeklärte Linke. Da Regierung und Parlament in der direkten Demokratie permanent mit der Drohung leben müssen, dass gegen ihre Gesetze das Referendum ergriffen wird und der Souverän in einem Volksentscheid das letzte Wort bekommt, wird in der Schweiz langsamer, vorsichtiger und weniger regiert.
Angesichts von legislatorischen Schweinsgaloppritten in der Berliner Steuer-, Wirtschafts- und Gesundheitspolitik oder hybrider Vorlagen wie Obamas Gesetz zur Krankenversicherung mit 2.000 Seiten Umfang sind Selbstbeschränkung und Langsamkeit im politischen Betrieb eher positiv zu bewerten.
Freilich ist die direkte Demokratie auch in der Schweiz vor Missbrauch nicht geschützt. Die Gefahren kommen von zwei Seiten her: Wenn sich das große Geld der Instrumente der direkten Demokratie bemächtigt, geht es im Vorfeld von Abstimmungen nicht mehr um politische Debatten, sondern um Propagandaschlachten, in denen der die Oberhand behält, der über mehr finanzielle Mittel verfügt.
Gegen UNO und EU
Am Rande der populistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) des Milliardärs Christoph Blocher entstand 1986 die AUNS („Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz“). Diese Gruppierung kämpft seither mit dem Geld Blochers nicht nur gegen den EU- und den UNO-Beitritt der Schweiz, sondern gegen alles, was nicht in ihr von Chauvinismus und helvetischer Selbstgerechtigkeit geprägtes Weltbild passt. Wie alle demagogischen Apparate bezeichnet sich die AUNS als „überparteilich“, steht jedoch der SVP mehr als nahe. Wie diese Partei ist auch die AUNS nicht immer erfolgreich (den UNO-Beitritt konnte sie 2002 nicht verhindern), aber sie verfügt über ein erhebliches propagandistisch-demagogisches Potential.
Das hat direkt mit der zweiten Gefahr für den Missbrauch der direkten Demokratie zu tun. Die Medienwelt hat sich auch in der Schweiz stark boulevardisiert und den politischen Betrieb erheblich versimpelt. Einfache Forderungen und populistische Floskeln („Burkaverbot“, „Schutz vor Pädophilen und Autorasern“, „Keine Finanzierung von Abtreibungen durch Krankenkassen“) haben mittlerweile große Chancen, medial verstärkt zu werden, während politische Fragen von erheblich weiter reichender Tragweite unterbelichtet bleiben. Der medial verstärkte Trend, restlos partikulare Forderungen wie das Minarett- oder Burkaverbot in der Verfassung zu verankern, könnte gestoppt werden, wenn die politische Elite – die die Gesetzesinitiativen auf ihre juristische Verfassungsmäßigkeit und auf ihre politische Verfassungswürdigkeit prüfen muss – die Souveränität aufbrächte, rein medial hochgepuschte Forderungen gar nicht zur Volksabstimmung zuzulassen. Sie hätte den politischen Ermessensspielraum dazu, denn dort, wo das Volk wirklich souverän ist, kann es kein Verfassungsgericht als Oberschiedsrichter geben. Aber die Elite nützt diesen Spielraum nicht und trägt damit zur Selbstdemontage der direkten Demokratie bei.
■ Der Autor ist Schweizer und lebt in Frankfurt am Main. Er setzt die Debatte nach einen Beitrag von Andreas Fanizadeh fort („Permanente Mobilmachung“ vom 20. 7., siehe: www.taz.de/1/debatte/ kommentar/artikel/1/permanente-mobilmachung/)