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Archiv-Artikel

20 Stunden auf See

Der türkische Hafen Mersin ist wichtige Zwischenstation für Flüchtlinge aus dem Libanon

AUS MERSIN JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Wir sind keine Hisbollah. Wir sind Touristen, ich kann ihnen noch unsere Flugtickets zeigen. Aber man hat uns ausgebombt.“ Die Dame aus Kanada ist immer noch außer sich vor Zorn. Ihre Tochter, die mit starrem Blick daneben steht, beginnt plötzlich zu weinen und kann gar nicht mehr aufhören. Sie ist psychisch und physisch am Ende. Ihre Mutter macht unterdessen einen Vorschlag, wie man Israel effektiver zu einem Waffenstillstand bewegen könnte, als es bei der Rom-Konferenz der Fall war: „Alle finanzielle Unterstützung für Israel muss eingestellt werden. Kanada, die USA und Europa sollen kein Geld mehr geben.“ Erschöpft wendet sie sich ab und wird von einem Mitarbeiter des kanadischen Roten Kreuzes aus dem Hafenterminal zu einem bereitstehenden Bus geleitet.

Zwanzig Stunden habe die Überfahrt von Beirut zum türkischen Mittelmeerhafen Mersin gedauert, erzählen die kanadischen Flüchtlinge, auf einer relativ kleinen, völlig überlasteten Fähre, teilweise bei ziemlich rauer See. Tagelang haben sie zuvor in Beirut gewartet, bevor sie auf ein Schiff gelassen wurden. „Aber wir konnten wenigsten raus. Die meisten Libanesen bleiben in der Hölle.“ Mersin, der Hafen am nordöstlichen Rand des Mittelmeeres, ist nach Larnaka auf Zypern zum wichtigsten Ziel für Flüchtlinge aus dem Libanon geworden. Der Industriehafen ist eigentlich nicht für große Passagierzahlen ausgelegt, aber die Hafenbehörden haben einen Terminal komplett frei geräumt und lassen Busse bis direkt an die Schiffe heranfahren.

Wo sonst Frachter gelöscht werden, liegt jetzt der riesige französische Truppentransporter „Mistral“, auf dessen Vordeck noch die Kampfhubschrauber geparkt sind. Die Franzosen werden zu Bussen geführt, mit denen sie gleich zum Flughafen in Adana gefahren werden. „Heute Abend sind sie in Paris“, erzählt ein französischer Arzt, selbst libanesischer Herkunft, der die Ankömmlinge betreut. „Vor zwei Wochen hab ich noch Urlaub in Beirut gemacht, jetzt stehe ich hier als Flüchtlingsbetreuer.“ Wie alle anderen auch kann er immer noch nicht verstehen, wie dieser Krieg aus heiterem Himmel über die Libanesen kommen konnte.

Vor allem Kanada, Frankreich, die USA und Australien, die viele libanesische Einwanderer beherbergen, bringen ihre Leute nach Mersin, weil der kleine griechisch-zypriotische Hafen Larnaka und auch der Flughafen in Nikosia völlig überlastet sind. Die meisten Flüchtlinge sind Libanesen, die ausgewandert sind, jetzt eine kanadische, australische oder andere westliche Staatsbürgerschaft besitzen und vom Krieg während eines Besuchs in ihrer ursprünglichen Heimat überrascht wurden. Nach vorsichtigen Schätzungen waren bei Kriegsausbruch ca. 50.000 Frankolibanesen, etwa gleich viele Kanadier und rund 25.000 Australolibanesen im Land. Die australische Botschafterin ist mit einem ganzen Stab Mitarbeitern nach Mersin gekommen, um den Rücktransport der Flüchtlinge zu koordinieren. „Die Evakuierung unserer Landsleute aus dem Libanon ist für Australien das größte Flüchtlingsdrama seit dem Zweiten Weltkrieg“, sagt Botschafterin Jean Dunn. Sie ist voll des Lobes für die türkischen Behörden, die sehr hilfsbereit seien und alles täten, um den Transfer der Flüchtlinge zu unterstützen. Da alle Hotels in Mersin und dem benachbarten Adana von Flüchtlingen ausgebucht sind, haben die Verwaltungen beider Städte Sporthallen und Aufenthaltsräume von Universitäten für die kurzfristige Unterbringung bereitgestellt.

Kizilay, der türkische Rote Halbmond, empfängt die Flüchtlinge mit Blumen, Essen, Trinken und stellt medizinische Hilfe bereit. Izzet Yanyali, der die Aktionen von Kizilay am Hafen koordiniert, beklagt sich allerdings, dass über Ankunftszeiten und Anzahl von Flüchtlingsschiffen schlecht informiert werde. „Oft kommen Schiffe mit zwölf Stunden Verspätung, oder es treffen Transporter ein, von denen wir nichts wussten.“ Die australische Botschafterin Jean Dunn bestätigt, dass die Schiffe oft Irrfahrten hinter sich haben, weil sie von Israel gesperrte Gebiete umfahren und unterwegs aufgetankt werden müssen. Andere Botschaftsmitarbeiter beklagen offen, dass die griechisch-zypriotische Regierung, wiewohl ihr Hafen völlig überlastet ist, verhindert, dass Flüchtlingstransporter den türkischen nordzypriotischen Hafen Famagusta anlaufen, weil sie fürchtet, das würde die international nicht anerkannte Republik Nordzypern aufwerten.

Angesichts der Nachrichten aus dem Libanon stellt man sich in Mersin nun darauf ein, noch längere Zeit als Auffanglager für Libanonflüchtlinge zu dienen. „Wir sind vorbereitet“, sagt der Gouverneur der Provinz Mersin, Hüseyin Aksoy. Sie haben in Mersin gerade vor wenigen Tagen einen neuen, großen Sportkomplex mit Hotel und Trainingsanlagen eingeweiht, den man notfalls bereitstellen könnte.