: Liberalismus der Minderheiten
FREIHEIT Judith N. Shklars politische Philosophie gründet sich auf der Erfahrung von Verfolgung
VON FELIX LÜTTGE
Der Liberalismus, liest man allerorten, ist in der Krise. Doch niemand weiß, was „liberal“ heute überhaupt bedeutet. Es trifft sich deshalb gut, dass jetzt endlich ein Text, der in den USA längst ein Klassiker der politischen Philosophie ist, in deutscher Übersetzung vorliegt: „Der Liberalismus der Furcht“, geschrieben von Judith N. Shklar, erstmals erschienen 1989.
Judith Nisse Shklar, 1928 in Riga geboren und Tochter deutschsprachiger Juden, floh als Jugendliche mit ihren Eltern erst vor Stalins und dann vor Hitlers Mördern nach Kanada. Sie wurde die erste Professorin für Politikwissenschaft in Harvard, und als sie 1992 starb, war sie eine der meistgeschätzten Figuren auf dem Feld politischer Theorie in den USA.
Ihr Programm eines „Liberalismus der Furcht“ hat wenig mit den Philosophien von Hannah Arendt oder John Rawls gemein. Statt um einen Liberalismus der Imperative geht es ihr um eine Minimaldefinition des Liberalismus, die sich als seine „ursprüngliche und allein zu rechtfertigende Bedeutung“ verteidigen lässt.
Was dabei herauskommt, ist ein negativer Liberalismus, der nicht formuliert, was wünschenswert wäre, sondern was nicht gewollt werden kann: „Jeder erwachsene Mensch sollte in der Lage sein, ohne Furcht und Vorurteil so viele Entscheidungen über so viele Aspekte seines Lebens zu fällen, wie es mit der gleichen Freiheit eines jeden anderen erwachsenen Menschen vereinbar ist.“
Nicht für ein höchstes Gut kämpft dieser Liberalismus, sondern für die Abwesenheit eines größten Übels. Shklar findet die historischen Wurzeln ihres defensiven Liberalismus daher auch nicht bei den Philosophen der Aufklärung, sondern in den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts.
Permanente Minderheiten
Kein Sapere aude begründet ihn, sondern die unmittelbare und körperliche Erfahrung davon, was es heißt, grausamer Verfolgung ausgesetzt zu sein. Als sich Christen von der Kirche abwandten und stattdessen in Toleranz den „Ausdruck christlicher Nächstenliebe“ sahen, entstand dieser Liberalismus. Axel Honneth spricht im Vorwort von einem „Liberalismus ‚von unten‘“, Shklar selbst sprach von einem Liberalismus der „permanenten Minderheiten“. Ein solcher Liberalismus hat nie Pause.
„Liberal“ könne man etwa die Vereinigten Staaten für die meiste Zeit ihrer Geschichte nur nennen, „wenn man Schwarze nicht zu den Mitgliedern ihrer Gesellschaft zählt“. Die Geheimdienste, die den Raum des Privaten verletzen, sind in Shklars Essay ebenso allgegenwärtig wie die Arbeitgeber, die mit Entlassungen drohen.
Nicht nur der Partei, die im Theater der Geschichte eine Farce von Liberalismus aufgeführt hat, ist ein Blick in diese Übersetzung anzuraten. Zu einer Zeit, in der sich die EU vor ihren Küsten beinahe täglich der fahrlässigen Tötung schuldig macht, ist zu hoffen, das diese Wiederentdeckung Judith N. Shklars einigen Nachhall haben wird.
■ Judith N. Shklar: „Der Liberalismus der Furcht“. Aus dem amerikanischen Englisch von H. Bajohr. Mit einem Vorwort von A. Honneth und Essays von M. Walzer, S. Benhabib und B. Williams. Matthes & Seitz, Berlin 2013, 174 Seiten, 14,80 Euro