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Archiv-Artikel

Eingebettete Irritationen

FESTIVAL Das Musikfest wächst und setzt in diesem Jahr unter anderem auf herausragende Chormusik. Auch die Ausdehnung ins Umland geht weiter

Chorische Kostbarkeiten

Heute ist mit dem Swedish Radio Choir eines der weltweit führenden A-cappella-Ensembles in der „Glocke“ zu hören, wo Daniel Harding den „Elias“ von Mendelssohn-Bartholdy aufführt – mit Thomas Quasthoff als Solist.

Morgen kommt Philippe Herreweghe mit dem Collegium Vocale Gent nach Verden, um Beethovens Missa Solemnis aufzuführen.

Weniger bekannt ist der State Choir Latvija, der am 31. 8. Verdis Requiem in der „Glocke“ singt. Der lettische Konzertchor ist auf Oratorien spezialisiert. HB

Prächtig gefeierte Jubiläen ziehen oft ausgeprägte Katerstimmungen nach sich. Insofern ist das diesjährige Programm des Bremer Musikfestes bemerkenswert: Es ist das 21., verzichtet aus finanziellen Gründen auf die hochkarätigen Opern-Produktionen des vergangenen Jubiläums-Jahres – und hat gerade deswegen die Möglichkeit, die Zahl der Konzerte wieder zu steigern: von 24 auf immerhin 37.

Die hierin enthaltene Verdoppelung auswärtiger Aufführungsorte verweist darauf, wo finanzielle und sonstige Unterstützung gesucht wird: in der so genannten Metropolregion. Mit 700.000 Euro trägt Bremen freilich immer noch fast zehnmal so viel zum 3,4 Millionen Euro-Etat des Musikfestes bei wie die öffentlichen Haushalte des Umlandes. Dass die Zahl der mitwirkenden KünstlerInnen sogar von 908 in 2009 auf 1.235 angewachsen ist, spiegelt wiederum den vokalen Schwerpunkt des diesjährigen Musikfestes: Einige – und vor allem sehr gute – Chöre nehmen teil.

Zwei davon, der Arnold Schoenberg Chor und das Ensemble Pygmalion, waren bereits bei der „Großen Nachtmusik“ zu hören, dem schon in sich festivalartig organisierten Auftakt des Musikfestes. Die sieben Spielorte in der Innenstadt, an denen Samstagabend 21 Konzerte stattfanden, sind zwar seit Jahren stets die selben – als ob man beispielsweise die Gewölbe unter dem Schütting nicht mal zum Jazzkeller umfunktionieren könnte, in dem ein bisschen was Heißeres als die ebenso üblichen wie bekömmlichen Kubaretrosounds der Landgerichts-Innenhofkonzerte zu hören wäre. Doch im Bereich Alte Musik, ohnehin eine Kernkompetenz von Festival-Intendant Thomas Albert, und dieses Jahr auch im Chorbereich, wird das Publikum durchaus mit „Unerhörtem“ konfrontiert.

Die Wenigsten der 4.000 Eröffnungs-Flaneure werden beispielsweise György Ligetis „Lux Aeterna“ gekannt haben, das der Schoenberg-Chor im Dom sang. Erwin Ortner, der das österreichische Spitzen-Ensemble seit dessen Gründung vor fast 40 Jahren leitet, gestaltet die flirrenden Klangteppiche, als die Ligeti das „Ewige Licht“ erscheinen lässt, mit souveräner Ruhe und erstaunlicher Übersicht über sämtliche Teiltöne. Auch die atonale Struktur der „Tre canti sacri“, die der esoterisch angehauchte Exzentriker Giacinto Scelsi in den 1980er Jahren komponierte, ist eine höchst produktive Zumutung für traditionell orientierte Ohren. Letztere zunehmend mit Irritierendem zu infiltrieren wäre die Chance dieses Festivals.

HENNING BLEYL