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Archiv-Artikel

Dichtestress

EUROPASKEPSIS Nicht nur rechte Kräfte wollen die Zuwanderung in die Schweiz beschränken, auch links-grüne – weil es eng wird

Außerhalb der EU

■ In der Schweiz spricht sich vor allem die Schweizerische Volkspartei (SVP) gegen einen Beitritt zur EU aus. Dennoch ist aus wirtschaftlicher Sicht die EU für die Schweiz der mit Abstand wichtigste Handelspartner. 1,2 Millionen EU-Bürger leben in der Schweiz, und circa 270.000 EUropäische GrenzgängerInnen fahren täglich in die Schweiz zur Arbeit. Umgekehrt haben sich 430.000 SchweizerInnen in der EU niedergelassen. Rund 120 Abkommen regeln dieses komplizierte Verhältnis zwischen Schweiz und EU. Diese werden nun neu ausgehandelt.

■ Warum Länder wie die Schweiz oder auch Liechtenstein zwar mitten in Europa, jedoch nicht Teil der EU sind, diskutieren auf dem taz.lab auf unterschiedlichen Panels unter anderem Felix Hasler (Weltenbürger aus Liechtenstein), Milo Rau (Schweizer Theatermacher) und Roger Köppel (Chefredakteur der Schweizer Wochenzeitung Die Weltwoche). (gin)

VON GINA BUCHER

Wirklich damit gerechnet hat niemand: Mit diesem Votum gegen Zuwanderung hat die Schweizerische Volkspartei (SVP) vor allem ein diffuses Gefühl auf einen Prozentsatz von 50,3 fixiert. Über die Gründe dieser Europaskepsis, die eine Regulierung der Zuwanderung nach sich zieht, wird spekuliert. Klar ist, dass das kein reiner SVP-Sieg aus der rechten Ecke ist. Die SVP kann traditionell auf knapp 27 Prozent der Stimmen zählen, woher also kommen die anderen Jastimmen?

Die Meinungsforschungsinstitute erzählen per interaktiven Landkarten mit unmerklich mehr grün (Ja) als rot (Nein) eingefärbten Flächen, dass insbesondere die ländlichen Gegenden gegen Zuwanderung sind; dass die Initiative dagegen in der französischsprachigen Schweiz und in den Städten wenig Chancen hatte. Gleichzeitig ergab eine Umfrage des SonntagsBlicks, dass eine Dreiviertelmehrheit der Schweizer am bilateralen Weg mit der EU festhalten wolle.

Diese zunächst statistischen Antworten sind interessant, weil bald eine weitere Hiobsinitiative zur Abstimmung steht: die Ecopop-Vorlage. Was dem Wort nach schick klingt (Eco immer gut, Pop auch), ist eine selten krude Vorlage, die sich gegen Überbevölkerung richtet. „ECOlogie et POPulation“ ist eine parteiunabhängige Umweltorganisation, die mit einer maximalen Nettozuwanderungsquote gegen eine Zersiedlung der Schweiz kämpft und Entwicklungshilfsgelder der Familienplanung, sprich Verhütung, in der Dritten Welt zugutekommen lassen will.

Die Initiative beruft sich auf die „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome. Anders als die Initiative gegen Zuwanderung nennt die Ecopop-Vorlage eine klare Zahl von maximal 0,2 Prozent Zuwanderung, was konkret rund 16.000 Menschen entspräche. Hinter dieser Vorlage stehen „begeisterte Wölfe im grünen Pelz“ (Die Wochenzeitung) wie Benno Büeler.

Der Bauernsohn aus Baselland lebt heute als Finanzchef einer liechtensteinischen Versicherung im dichtbesiedelten Winterthur nahe Zürich. Anfang Januar schrieb der Ex-Grüne, unterdessen parteilose Präsident von Ecopop in der Neuen Zürcher Zeitung: „Wer meint, dass die Menschen unabhängig vom Wohnort konsumieren und es ökologisch keine Rolle spiele, wo sie leben, übersieht Entscheidendes: Der ökologische Fußabdruck wächst via Konsum mit der Kaufkraft, und dessen Steigerung ist Hauptmotiv für viele Einwanderer.“ Damit stiftet er einen gefährlichen Link zwischen einem eigentlich linksgrünen (ökologischer Fußabdruck) und einem rechtskonservativen SVP-Anliegen (Einwanderer).

Nun ist Kritik an Zubetonierung und Zersiedelung durchaus angebracht, denn in der Schweiz ist es tatsächlich enger als einst geworden. Die Dichte bekommt hier jeder täglich zu spüren: in den Pendlerströmen, die sich aus den Vororten nach Zürich ergießen, oder bei der Wohnungssuche, die zum Albtraum werden kann. Doch auch die Landschaft verdichtet sich immer mehr, weil wenige Menschen immer mehr Platz beanspruchen.

Allerdings sind für diesen Dichtestress nicht allein „Einwanderer“ verantwortlich, sondern genauso jene Schweizer, die unbedingt in ihrem Einfamilienhaus mit Garten und inklusive zwei Autos wohnen möchten. Verzichten wollen gerade auch die Schweizer nicht.

Die Ecopop-Vorlage kämpft mit einer Nettozuwanderungsquote gegen Zersiedelung

Überhaupt, wer sind diese kaufkräftigen „Einwanderer“, die die SVP ohne Umschweife „Ausländer“ nennt? Die Zuwanderungsinitiative richtete sich in erster Linie gegen EU-Bürger. Menschen also, die aus dem gleichen Sprachraum, mit einer ähnlichen Ausbildung, schlimmer noch: mit womöglich den gleichen Ansprüchen in das Land kommen. Nicht um Asyl zu beantragen, sondern um zu arbeiten.

Der Mittelstand spürt die Konkurrenz durchaus. Anders als in der Baubranche gibt es in der IT-Branche keine „flankierenden Maßnahmen“. Der Druck in Lohnfragen ist da, wenn ein dual ausgebildeter Schweizer gegen den akademisch dekorierten Ausländer keine Chance hat, weil für Letzteren selbst drei Viertel des Lohns immer noch viel sind.

Nicht alle Schweizer aber sind so reich, dass ihnen das egal sein könnte. Das Abstimmungsergebnis muss also auch als Antwort auf die harscher gewordenen Wirtschafts- und Arbeitsverhältnisse gelesen werden. Auch wenn diverse Studien betonen, wie die Schweiz von der Freizügigkeit profitiert und der Mittelstand nicht etwa verliert, sondern stagniert – während das restliche Europa deutlich an Speck verliert.

In der Schweiz fehlt es derzeit an bedächtig argumentierenden Kräften, die solche Fragen klug klären, damit durch Vorlagen wie jene von Ecopop selbst weltoffene Schweizer nicht in ein Pseudodilemma geraten: Wer gegen Ecopop, also für Europa ist, spricht sich für die Wirtschaft aus, die nicht zwingend sozial sein muss. Und es ist bezeichnend, dass die jugendlich-urban wirkende Gesellschaft für eine offene und moderne Schweiz (GomS), die sich durchaus kreativ gegen die SVP- und Ecopop-Initiativen engagiert, vom größten Schweizer Wirtschaftsverband Economiesuisse unterstützt wird.

Gina Bucher, 35, taz.lab-Mitkuratorin seit 2009, lebt als Schweizerin in Zürich und Berlin