Historische Traumata

Aufgrund seiner historischen Verantwortung sollte sich Europa stärker für einen Frieden im Nahen Osten einsetzen. Gerade die Deutschen könnten eine führende Rolle spielen

Die USA bieten Israel keinen wirklichen Schutz, sie instrumentalisieren es im Krieg gegen den Terror Die intensiven Traumata führen fast zwangsläufig zu Überreaktion und Eskalation im Nahen Osten Deutschland sollte sich engagieren, gerade weil es seine historische Verantwortung anerkennt

Angesichts der Kriege in Libanon und Gaza ist klar geworden, dass es ohne eine Einmischung der Weltgemeinschaft keine Sicherheit, ja vielleicht noch nicht einmal eine Zukunft für Israelis und Palästinenser geben wird. Die israelische Politik wird von dem Glauben angetrieben, dass Israel allein, ohne Unterstützung und existenzgefährdet in der Welt dastehe. Dieser Glaube ist von der Bush-Regierung genährt und ausgebeutet worden, die – anders als alle anderen US-Regierungen seit Ronald Reagan – den Israelis keine Diplomatie und keinen Schutz bot, sondern nur immer mehr Waffen lieferte, damit diese ihr Erfüllungsgehilfe und ihre Speerspitze im „Kampf gegen den Terror“ sein könnten.

Seit sechs Jahren haben die Vereinigten Staaten den Konflikt angeheizt, jede Einmischung abgelehnt, und jetzt, wo die Situation außer Kontrolle zu geraten droht, weigern sie sich immer noch, anzuerkennen, dass das eigentliche Thema nicht der Terrorismus ist, sondern die Notwendigkeit einer friedlichen Lösung des Palästinakonflikts. Sogar jetzt noch weigern sich die USA, anzuerkennen, dass die israelische Besetzung die Hauptquelle der Instabilität in der Region ist, weil sie Wasser auf die Mühlen der eifrigen und fanatischen Gruppen kippt, von denen Israel ausgelöscht zu werden fürchtet.

Während es Israel erlaubt, anderen Menschen unsagbaren Schaden zuzufügen, als würde dies ihm Schutz bieten – wahrscheinlich ist eher das Gegenteil der Fall –, relativiert die Regierung von Präsident George W. Bush nicht nur das Leid in Gaza und im Libanon. Sie bekräftigt auch die israelischen Ängste, dass diese Zerstörung notwendig sei, weil sonst die eigene Vernichtung drohe. Das Problem war nicht, dass die USA Israel „grünes“ Licht gegeben hätten, sondern dass sie es davon überzeugten, dass es keine andere Chance gäbe, als über eine rote Ampel zu rasen, egal wie viele Fahrzeuge auf dem Weg gerammt würden.

Angesichts der verheerenden Situation für Israelis, Palästinenser und Libanesen muss man sich fragen, warum Europa und die UNO nicht in der Lage waren, sich gegenüber der US-Regierung zu behaupten. Das Thema wurde fälschlicherweise mit „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen“ bezeichnet. Dabei lautet die eigentliche Frage: „Was hat dazu geführt, dass Israel sich (so) verteidigen muss?“

Da ist eine sehr komplexe Beziehung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart im Spiel, in der ein unausgesprochenes Schuldgefühl es insbesondere den Deutschen abverlangt, das israelische „Recht auf Bush-Selbstverteidigung“ anzuerkennen, das de facto aber eine Lizenz darstellt, destruktiv und mit Gewalt zu reagieren und dadurch vergangene Traumata wiederzubeleben.

Als an diesen Traumata maßgeblich Schuldigen scheint es den Deutschen nicht erlaubt, das Problem zu benennen, denn das würde bedeuten, das Opfer zu beschuldigen. Stattdessen müssen sie „mit Vorsicht handeln“ und sich jeder Kritik enthalten, als ob dies – anders als echte Hilfeleistung und Schutz auf der Basis der Anerkennung einer historischen Verantwortung – eine Wiedergutmachung darstellen würde.

Im Gegensatz dazu glaube ich, dass gerade die Deutschen eine führende Rolle dabei spielen könnten, die Dynamik dieser schrecklichen Situation zu ändern, indem sie ihre Verantwortung für die Ursachen anerkennen und somit Europäer, Juden und vielleicht auch Palästinenser in die Lage versetzen, diesen tödlichen Kreislauf der Wiederholung zu durchbrechen.

Ich glaube, dass es notwendig ist, mehr als bisher darüber nachzudenken, wie die Vergangenheit in der Gegenwart fortlebt, während sich Araber und Israelis in schrecklicher Weise gegenseitig umbringen. Und es ist meine Überzeugung, dass gerade die Deutschen diesen tragischen Moment im Nahostkonflikt als Chance begreifen sollten, aus der Vergangenheit etwas Neues zu machen.

Es geht darum, über die leere Rhetorik von Schuld, Anklage und „Recht auf Selbstverteidigung“ hinauszugehen und mit dem Geschehen umzugehen, das diese Situation verursacht hat.

Ich denke, dass Deutschland eine führende Rolle dabei spielen sollte, eine neue Verantwortung zu übernehmen für das, was jetzt geschieht – basierend eben nicht auf irgendeiner „Unschuld“, sondern gerade auf Grundlage der vollen Anerkennung der Verantwortung Deutschlands und anderer europäischer Nationen für Antisemitismus, Kolonialismus, die jüdische Besiedlung Palästinas und letztlich den Holocaust. Diese haben zu solch intensiven Traumata, Gefühlen der Verletzlichkeit und drohenden Katastrophen geführt, dass Überreaktion und Eskalation fast zwangläufig sind.

Israels Unsicherheit und seine Neigung, im Namen der Sicherheit mit Unnachgiebigkeit und Kriseneskalation zu reagieren, wird wiederholt mit dem Hinweis auf die Vergangenheit verteidigt. Viele psychologische Studien belegen, dass solche nationalen Traumata von einer Generation an die nächste weitergegeben werden.

Wenn man sieht, wie schnell im Streit über die israelische Besetzung und Unnachgiebigkeit die Erinnerung an den Holocaust wachgerufen wird, sollte man dies weder als billige Rechtfertigung noch als Selbstgerechtigkeit abtun. Es ist nicht einfach eine moralische Trumpfkarte, die da gezogen wird.

Die Situation wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass Israel sehr genau weiß, dass das, was es mutmaßlich zu seiner Verteidigung unternimmt, von der Welt moralisch verurteilt wird. Und dies ist der ultimative Grund für die israelische Unsicherheit: Es ist das Gefühl, dass, wenn Israel die Rechtmäßigkeit seiner Handlungen abgesprochen wird, ihm damit letztlich auch sein Existenzrecht abgesprochen wird. Wenn es sich verteidigt, wird es verurteilt; wenn nicht, wird es umgebracht.

Auf der anderen Seite fühlen sich die Palästinenser ironischerweise in der gleichen Situation – ihre Mittel des Widerstands werden moralisch als Terrorismus verurteilt, während der Verzicht auf Widerstand so empfunden wird, als würde man sich in die eigene Vernichtung fügen. Gewaltlosem Widerstand wird mit israelischer Gewalt begegnet, und die Welt, insbesondere Amerika, nimmt davon kaum Notiz. Auch die Palästinenser fühlen sich – insbesondere nach dem Entzug der Unterstützung nach dem Wahlsieg der Hamas – alleingelassen und vor die Wahl gestellt, entweder wirkungslos zu protestieren oder aber getötet zu werden. Palästinenser empfinden die israelische Besetzung als letztgültige Manifestation des europäischen Imperialismus und als Missachtung ihrer Unabhängigkeit, die zu ihrer „Nakba“ (der Katastrophe der Vertreibung von 1947) beigetragen hat.

Vergleichbare Traumata beider Völker führen – bei allen Unterschieden – in vielerlei Hinsicht zu einem ähnlichen Bedürfnis nach Anerkennung der internationalen Verantwortung für die destruktive Verformung ihrer legitimen Verteidigungsweisen. Die Deutschen sind sich bewusst, dass die gegenwärtige Lage der Dinge nicht nur Ergebnis geopolitischer Realitäten ist, sondern auch eine Folge des ungelösten Erbes von Leid, Erniedrigung und extremer Verfolgung, der die Juden in Europa ausgesetzt waren.

Die Deutschen haben sich intensiv mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt, und es existiert ein breites öffentliches Bewusstsein für den Preis, der von denen bezahlt werden muss, die es zulassen, dass Gewalt und Ressentiments außer Kontrolle geraten. Jene Deutschen, die Teil der Generation sind, die alt genug ist, um die Konsequenzen zu kennen, die die Schuld getragen haben, ohne selbst Täter gewesen zu sein, können offen über die Vergangenheit sprechen und so andere Entscheidungsträger in Europa dazu inspirieren, Verantwortung zu übernehmen und den Schutz und die Sicherheit zu bieten, die in der Vergangenheit versagt blieben. Europa war einmal die Heimat der Juden, aber es wurde zu ihrer Hölle.

Deutschland kann jetzt das Ergebnis seiner Handlungen in der Vergangenheit anerkennen und auf dieser Grundlage auf der Pflicht zur Einmischung bestehen, um den Schutz und das Leben von zwei sehr verletzlichen Völkern zu garantieren. Indem Deutschland und Europa ihre Verantwortung anerkennen, was die Vereinigten Staaten verweigern, könnten sie den Konflikt aus dem Kreislauf der Gewalt und der gegenseitigen Schuldzuweisungen führen.

JESSICA BENJAMIN

Übersetzung: Daniel Bax