: „Konflikte halten das Stadtleben wach“
ALLTAGSFORSCHUNG Debatten wie die um Lärm und Schmutz machen Berlin aus, sagt Wolfgang Kaschuba, Ethnologe an der Humboldt-Universität. Kein Zufall, dass gerade jetzt so gestritten wird: Es gebe Verschiebungen zwischen öffentlichem und privatem Raum
■ 64, studierte und lehrte im schwäbischen Tübingen. Seit 1992 ist er Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Uni.
taz: Herr Kaschuba, Sie beobachten als Ethnologe Alltag in Metropolen. Ist der Ordnungssinn in Berlin mehr oder weniger ausgeprägt als anderorts?
Wolfgang Kaschuba: Das kann man so nicht sagen. Wir haben viel Zu- und Abwanderung in Berlin, die Menschen wohnen sehr nah aufeinander. Diese Bedingungen der Großstadt führen dazu, dass ganz unterschiedliche Ordnungsvorstellungen existieren und auf engstem Raum aufeinanderprallen. Man könnte sagen, das Ergebnis ist: Nach außen hin herrscht Chaos, privat hat jeder seine Ordnung. Aber das stimmt so natürlich nicht ganz. Man muss nach Bezirken differenzieren. Dahlem sieht anders aus als Wedding.
Die Ordnungsliebenden ziehen in die ordentlichen Bezirke?
Dort, wo die Bildungsvoraussetzungen, die Lebensstile und die Einkommensklassen ähnlicher sind, gibt es möglicherweise mehr Ordnung und Ruhe. Das ist aber auch mit mehr sozialer Kontrolle verbunden. In anderen Gegenden herrscht mehr Anarchie. Die hat auch ihre freiheitlichen Seiten.
Im Schwäbischen gibt es die Kehrwoche, eine starke Form von Selbstorganisation und sozialer Kontrolle. Warum funktioniert das dort und hierzulande nicht?
Weil die Schwaben und Teile Nordbayerns seit zwei Jahrhunderten darauf trainiert sind. Die Kehrwoche ist verbunden mit dörflichen und kleinstädtischen Milieus und Räumlichkeiten. Dort herrscht eine starke soziale Kontrolle. Das heißt: Druck zur Konformität. Großstädte sind nichtkonform, sie tendieren zu Eigenarten. Schon Max Weber witterte in den Städten den „Duft der Freiheit“.
Muss hierzulande der Staat als Kontrollinstanz einspringen, wenn die dörfliche Sozialkontrolle fehlt?
Jein. Es gibt gerade in Berlin die preußische Tradition der staatlichen Fürsorge und Bevormundung, der Erziehung der Untertanen. Auf der anderen Seite entwickelt der Staat, wenn er schlau ist, weniger die Ordnungsfürsorge als die Anstiftung zur Verantwortlichkeit. Man sollte Bewohner beispielsweise darin fördern, ihre Baumscheiben, also die paar Quadratmeter um die Straßenbäume, selbst zu pflegen. So entwickelt sich Zivilgesellschaft. Und so entstehen Debatten, ob wir nicht auch zuständig sind für unseren lebensweltlichen öffentlichen Raum. Diese Verschiebungen zwischen öffentlichem und privaten Raum sind in Berlin gerade sehr spannend.
Inwiefern?
Zum einen gibt es eine Privatisierung des Öffentlichen. Manche alternativen Strandbars am Spreeufer zum Beispiel sind auf eine Art privat, weil sie von ihrem Stil her nur bestimmte Leute, etwa eine bestimmte Generation, ansprechen. Zum anderen gibt es eine Öffentlichkeit des Privaten. Die Städte und ihre Räume werden heute sehr viel mehr als vor 30, 40 Jahren wieder als Kontaktzonen genutzt.
Man trifft sich draußen.
Genau. Das ist gerade in Berlin eine dramatische Entwicklung. Wenn der Frühling noch ein bisschen anhält, werden wieder 300.000 Palmen nach draußen gezerrt, es werden 35 Stadtstrände besandet, es werden die Caféstühle rausgerückt. An einem schönen Nachmittag sind Hunderttausende in den Parks, an den Ufern, auf Plätzen. Und nicht nur Hartz-IV-Empfänger. Heute ist es selbstverständlich, dass man sich im Liegestuhl zeigt. Das war früher – außer am Strand – eine private Körperhaltung. Ich habe ein Foto von einer 84-jährigen Nachbarin, die mit ihrer Freundin auf dem Gehsteig in Kreuzberg im Liegestuhl liegt und Kaffee trinkt.
Ist die stärkere Nutzung des öffentlichen Raums der Grund dafür, dass es auch wieder mehr Debatten darüber gibt?
Ja. Die Frage, wem die öffentlichen Räume gehören, wird energisch nach vorne getragen. Die Antwort lautet: „Uns.“ Aber wer sind „wir“? Da treten die Konflikte auf zwischen Einheimischen und Touristen, zwischen bestimmten Lebensstilen. Wenn man das genauer betrachtet, stellt man allerdings fest, dass die Grenzen verschwimmen. Wer ist hier schon Tourist und wer Einheimischer? Wer ist migrantisch und wer biodeutsch? Das kann man oft nicht mehr so genau sagen. Konflikte halten ein Stadtleben aber auch wach. Wenn es um Dreck geht, um Lärm, um Spaß oder Erlebnis, muss das ausgehandelt werden. Das ist im Grunde genau das, was die Atmosphäre Berlins ausmacht.
INTERVIEW: ANTJE LANG-LENDORFF