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Archiv-Artikel

Was bleibt?

Kein besonderes Prestige zeichnet momentan Angela Merkel aus. Die Verliebtheit, die anfangs Medien und Publikum stimulierte, ist verflogen. Die DDR aber ist längst bei uns zu Hause – auch dank der Regierungschefin

VON MICHAEL RUTSCHKY

Man bringt der Bundeskanzlerin jenes Misstrauen entgegen, das die Bundesrepublik im Normalfall in ihr Führungspersonal investiert. Dabei bleibt, wenn ich richtig sehe, ohne Bedeutung, dass Angela Merkel ein DDR-Produkt ist. „Sie kann es nicht“, der Satz, mit dem man so gern das endgültige Urteil über das politische Personal spricht, dieser Satz findet im Fall der Bundeskanzlerin keine Fortsetzung mit: „Wie hätte sie es lernen sollen in der DDR?“

Niemand bezweifelt, dass Angela Merkel seit der Wiedervereinigung ihr Metier in der CDU gelernt hat. Dabei gibt es offensichtlich Eigenheiten der Regierungschefin zu beobachten, die sich ohne Mühe aus ihrer DDR-Herkunft herleiten lassen. Mich beeindruckt vor allem ihre Indifferenz gegenüber dem Fotografiertwerden.

Während das westliche Politpersonal daran gewöhnt ist, dass jederzeit eine Kamera in Aktion treten kann – weshalb man das entsprechende Gesicht aufgesetzt haben muss –, ganz im Gegensatz dazu scheint Angela Merkel überhaupt keine Rücksicht auf die Dauerbeobachtung zu nehmen. Seit Monaten veröffentlicht die Satirezeitschrift Titanic unter der Überschrift „Merkel-Sammelbildchen“ unvorteilhafte Schnappschüsse. Kein Imageberater konnte ihr nachhaltig beibringen, dass man sich so auf keinen Fall in der Öffentlichkeit zeigt.

Ostbürger können diese Eigenheit der Kanzlerin würdigen. In der DDR legte man in der Tat wenig Wert auf die äußere Inszenierung. Ein allzu großes Interesse an Mode, Selbstdarstellung, Umgangsformen galt als bürgerlich-dekadent – es fehlten ja, lacht im Rückblick verächtlich der Ostbürger, einfach die Mittel. Wie der Verfall der sozialistischen Innenstädte demonstrierte. Weshalb sie zu restaurieren nach der Wiedervereinigung ein solcher Herzenswunsch war. Heute übertreffen viele ostdeutsche Städte und Städtchen die im Westen an Ansehnlichkeit. Gleichwohl, könnte der gebildete Ostbürger resümieren, die DDR war ein Land mit stark protestantischer Tradition. Diese schreibt vor, dass man auf Innerlichkeit setzt und das Äußere vernachlässigt, wenn nicht verachtet – und als dann mit der Wiedervereinigung der Westen kam mit seiner Leidenschaft für Mode, Auftreten, Imagepflege, da verstärkte sich verständlicherweise der Wunsch nach protestantischer Innerlichkeit und Authentizität.

Angela Merkel ist ein Pfarrerskind. Nun könnte ich aus langer Erfahrung mit DDR-Bürgern widersprechen und erzählen, wie haargenau sie bei den französischen Käsesorten, die sie mitgebracht wünschten, auf die feinen Unterschiede achteten. Mehr Aufschluss verspricht ein anderer Punkt. Dass solche Unterscheidungskünste, was typisch sei für den Westen, was für die DDR, im Grunde erst nach deren Untergang aufkamen.

Erst in den Neunzigerjahren, ist oft bemerkt worden, entstand eine DDR, die sich durch Sitten und Gebräuche, Geschmacksvorlieben und Abneigungen von der westlichen Bundesrepublik absentierte. Bei Besuchen in fremden Wohnungen die Straßenschuhe an der Tür ausziehen. Hier entstand das Schema, dass der Osten sich durch ungeschminkte Authentizität auszeichne, während der Westen eine Künstlichkeit der Selbstdarstellung pflege, die sich vermutlich seiner Amerikanisierung verdanke. Als Ostwaren unter ihrem alten Namen wieder in den Geschäften zu kaufen waren – anfangs boomten ja Dosenbier und Westzigaretten, Rama und Coca-Cola –, nach der Rückkehr der Ostwaren also erklärte mir mal eine Ostbürgerin, sie kaufe nur solche.

Der Osttrotz, wie sie spöttisch bemerkte; außerdem schmeckten die Nährmittel irgendwie natürlicher, weniger nach Chemie. Was die Authentizität, deren sich der Osten rühmt, auf seine Lebensmittel ausdehnt. Dass dergestalt erst nach der Wiedervereinigung die DDR als eigene Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft entstand, das hat die Republik seinerzeit stark beunruhigt. Wir sollten doch einig sein. Nur in Einigkeit löst man schwierige politische Aufgaben – dass zwischen Nord- und Süddeutschland, Hamburg und München ebenfalls die schärfsten Unterschiede klaffen, geriet darüber in Vergessenheit.

Inzwischen ist Ostdeutschland mit seinen aufgehübschten Städtchen, seinen stillen Landschaften, seinem anhaltenden Misstrauen gegen den Westen ein fester Bestandteil der Republik. 1961 war die DDR mit dem Bau der Mauer so gut wie verschwunden. Am besten, man dachte nicht mehr an „die Brüder und Schwestern im Osten“, wie die offizielle Formel lautete; es nützte ja nichts. Dass die DDR ein überlegenes politisch-ökonomisches System bilde, die Flüchtlingsströme hatten diesen Glauben drastisch dementiert, ein Glaube im Übrigen, der nach dem Kriegsende im Westen ebenfalls weit verbreitet gewesen war. Unter demokratisch-kapitalistischen Verhältnissen, lautete die Überzeugung, lebt es sich angenehmer – will aber eine Gesellschaft heroische Leistungen vollbringen, ist der Sozialismus privilegiert. Der erste Weltraumsatellit, der sowjetische Sputnik, schien 1957 den schlagenden Beweis zu liefern.

Aber die Flüchtlingsströme, die auch in der DDR nicht mehr als Ergebnis antisozialistischer Wühlarbeit und Propaganda entwertet werden konnten. So versuchte man den Eingeschlossenen zu erklären, dass sie jetzt ihren Hortus conclusus, ihren verriegelten Garten, zu einer Idylle auszugestalten hätten, die der Welt als Vorbild leuchtet. Und der Westen, der so lange blindlings von der Sowjetunion die Wiedervereinigung gefordert hatte, zog allmählich seine Aufmerksamkeit ab.

Nein, die Geschichte ging anders weiter. Weil die DDR sich dem Willen zur Wiedervereinigung widersetzte und auf ihrer Fortexistenz bestand, begannen im Westen vor allem die kulturellen Kader, sich für sie zu interessieren. An den Universitäten fing man an, sie zu erforschen, ihre Literatur, das politische System, das Wirtschaftsleben, den gezielten Umbau der überlieferten Klassengesellschaft. Die westdeutsche Intelligenzija knüpfte Kontakte an mit der ostdeutschen; manche Kader bildeten sich ein, gemeinsam jenseits des Ost-West-Gegensatzes zu stehen, Distanz zum Kapitalismus ebenso wie zum Sozialismus wahren zu können.

Die sog. Konvergenztheorie kam auf, die postulierte, dass die beiden verfeindeten Blöcke einander im Lauf der Zeit immer ähnlicher würden. Das waren keine besinnlich-entspannten Erörterungen. Es herrschte, wie tief im Frieden wir uns auch befanden, Kriegszustand, wenn es auch ein Kalter Krieg war. Heiß durfte er keinesfalls werden; die Bundeswehr, sagten die Soziologen, war die erste Armee der Weltgeschichte, die unmöglich wünschen durfte, wonach Armeen normalerweise streben, nämlich sich im Kampf zu bewähren.

Seit die einst allgegenwärtige Drohung verflogen ist, verschwand das Lebensgefühl, das die Atomkriegsangst erzeugte. Jederzeit musste man befürchten, dass das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens sich auflöste und der wahre Schrecken anfing – wenn man in der Katastrophe überhaupt noch die Zeit hätte, ihn zu empfinden. Die Atomkriegsangst malte sich eine Art Weltvernichtung aus.

Was lag da näher, als sich den Gegner, die DDR als nächsten Repräsentanten des sowjetischen Imperiums, genauer anzuschauen? Und zu fragen, ob die Gegensätze den Weltvernichtungskrieg wahrhaft lohnten. Hinzu kam die Jugend-und-Studenten-Revolte der späten Sechzigerjahre, in der einige Begeisterte sogar meinten, die DDR verkörpere das bessere Deutschland – heute noch schwerer nachzuempfinden als die Atomkriegsangst. Versprengte Kader mit besonders heftiger Motivation versuchten, leninistische Parteien zu gründen, die sich der Arbeiterklasse als politische Avantgarde anbieten sollten – die Mythologie des marxistisch gedeuteten Klassenkampfs tauchte inmitten der akademisch sich bildenden Jugend wieder auf und verbreitete unter vielen Bürgern einen eigenen Schrecken.

Zugleich gründete sich, mit Unterstützung der DDR, im Westen eine Deutsche Kommunistische Partei, deren Mitglieder alles andere als aufgeregte Jungmenschen, vielmehr biedere Kleinbürger waren. Manche Soziologen behaupten, dass sich ein System in seiner Lebenskraft und Handlungsfähigkeit außerordentlich stärkt, wenn es seinen Gegner, womöglich Feind, statt ihn draußen zu halten, inkorporiere.

Als physiologischen Parallelfall führen sie die Impfung an, bei der man den Körper mit jener Krankheit infiziert, gegen die er sich immunisieren soll. Mal sehen, ob die kommenden Jahre für das Theorem einen Beleg in puncto Islamismus liefern; bislang ist ja völlig undenkbar, dass wir ihn als Feind neutralisieren. Die Geschichte der (parlamentarischen) Demokratie entspricht dem Theorem genau, insofern sie die Opposition als einen Akteur auffasst, der immer präsent ist und mitspielt und den endgültig auszuschalten die Regierung niemals beabsichtigen darf. Zumal sie nach den nächsten Wahlen womöglich selber die Opposition stellt.

Kurzum, die Wiederkehr der marxistisch-leninistischen Mythologie in der westlichen Jugendkultur und Intelligenzija trug – auf bislang kaum erforschte Weise – zur Befriedung des Kalten Krieges bei. Wesentlicheres, versteht sich, die Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition, die von der Opposition, als sie die Regierung übernahm, fortgesetzt wurde, Honecker auf Staatsbesuch bei Kohl. Und dann machten sich allmählich jene Prozesse bemerkbar, die schließlich den Untergang der DDR, der sogenannten Volksdemokratien, des sowjetischen Imperiums herbeiführten. Niemand hatte diesen Untergang vorausgesagt – was jeden, der sich seitdem zum Prophezeien berufen fühlt, warnen muss.

Mit der Wiedervereinigung wurde aus der DDR ein Teil des Westens; dass man sich dort als Opposition, mehr oder minder stark im Widerstand fühlen darf, gehört dazu, wie die Bewohner lernten (auch die Westbürger sind meist im Widerstand). Nachdem die Grenze offen war, kam es zu Reisebewegungen hinüber und herüber; einerseits Erleuchtungserlebnisse beim Erwerb des ersten Westautos, andererseits nostalgische Zeitreisen: Dort schaut es aus, schwärmte mancher Westbürger, wie in meiner Kindheit. Solche Bewegungen haben nicht aufgehört, sondern sich spezialisiert. Von Osten nach Westen führt die Arbeitssuche, keine Vergnügungs- oder Entdeckungsreise.

Vom Westen aus fährt man bevorzugt in die touristischen Zonen: Ich kenne mich aus mit Rügen, das in vielerlei Hinsicht mit Sylt und den friesischen Inseln erfolgreich konkurriert. Wenn ich richtig sehe, erklärt sich das aus der Nostalgie, dem bittersüßen Heimwehzustand, in den die frisch geöffnete DDR so viele Westbesucher versetzte. Zwar kann ich vom Ostseebad Binz, das ich öfter besuche, unmöglich behaupten, es schaue aus wie in meiner Kindheit, denn da war es mir in seiner Leibhaftigkeit unbekannt – wohl aber wusste ich, wie es in der Kindheit meiner Mutter aussah, denn ihr Vater hatte die Familienferien auf Rügen immer wieder gefilmt. Und so, wie diese historischen Aufnahmen das Ostseebad Binz zeigen, hat es sich nach 1989 strahlend rekonstruiert.

Binz jedenfalls leuchtet heute wie ein fashionables Seebad um 1900 – Disneyland!, schnauben die Verächter. Doch gehört die Traumkulisse zum Ferienvergnügen dazu. Kurios, dass sich in solchen korrekt rekonstruierten Ferienorten das Westinteresse an Ostdeutschland verdichtet. Das schmucke Ostseebad Binz offeriert, wenn ich richtig sehe, keinen Luxus im strengen Sinn, keine juwelenartige Edelcuisine, keine Boutiquen mit unerschwinglichen Klamotten, keine Hotelsuiten mit eingebautem Hundertmeterpool.

Es liegt, will ich sagen, immer noch ein wenig sozialistische Gleichmacherei über der Angelegenheit. Die anderen sprechen von Gerechtigkeitssinn. Es kommt mir so vor, als habe der erste Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden, indem er sich in der westlichen Bundesrepublik auflöste, diese mit dem mehr oder minder starken Antikapitalismus imprägniert, der heute allüberall anzutreffen ist. Die Geschäftsleute und Unternehmer dürfen zwar nach Belieben Geld verdienen, aber dann muss ein starker und wohlwollender Staat den Reichtum so gerecht wie möglich verteilen – es gibt kaum eine Gegend, wo dieser Gedanke nicht herumspukt.

Überhaupt ist solch ein starker und wohlwollender Staat das höchste Gut; ihm muss sich die Gesellschaft unterordnen. Statt, wie in den USA, blindlings ihren eigenen Freiheiten zu folgen. Historiker könnten uns zeigen, aus welchen deutschen Traditionen sich solche Gedanken herleiten, von Hegel bis Bismarck. Ihre endgültige Verkörperung jedenfalls sollten sie in der DDR finden – bloß dass die zu wenig Reichtum hervorbrachte und deshalb auch das Wohlwollen sehr zu wünschen übrig ließ. Weshalb ihre Bürger ihr bei erster Gelegenheit den Garaus machten.

Aber der Wunsch nach umfassender Patronage west in Gesamtdeutschland fort. Dass die Bundeskanzlerin aus dem Osten so wenig zur Erfüllung des Wunsches beitragen kann, vielleicht schadet es ihrem Ansehen in besonderer Weise. Aber, Hand aufs Herz, wie hätte sie es schaffen sollen, sich als die große Wohltäterin zu profilieren?

MICHAEL RUTSCHKY, geboren 1943, ist Publizist und lebt in Berlin