: Bereitschaftsdienst als Beihilfe zum Mord
JUSTIZ Wie die Stuttgarter Staatsanwaltschaft jetzt ehemalige Wachleute aus Auschwitz verfolgen will
STUTTGART taz | Die Staatsanwaltschaft Stuttgart sieht gute Chancen, ehemaligen KZ-Wachleuten heute noch eine individuelle Beteiligung am Massenmord von Auschwitz nachzuweisen. Die Teilnahme an Bereitschaftsdiensten genüge als Beihilfehandlung, sagte der federführende Staatsanwalt Ralf Dietrich bei einer Pressekonferenz.
Dietrich ermittelte im Pilotverfahren gegen den 94-jährigen Hans Lipschis, der als Wachmann im KZ Auschwitz tätig war. Ende Februar entschied das Landgericht Ellwangen zwar, dass das Verfahren gegen Lipschis nicht eröffnet wird: Wegen zunehmender Demenz könne der Greis einer Verhandlung nicht mehr ausreichend folgen. Angehörige von Opfern erhoben dagegen Beschwerde, über die noch das Oberlandesgericht Stuttgart entscheiden muss.
Für Staatsanwalt Dietrich war vor allem wichtig: „Das Landgericht Ellwangen hat unser Vorgehen grundsätzlich gebilligt.“ Danach genüge es, nachzuweisen, dass ein Wachmann einer bestimmten Wachkompanie angehörte und dass zu der Zeit, in der diese Kompanie Dienst hatte, Menschen ermordet wurden. Die Dienstzeiten ermittelte Dietrich anhand von alten Unterlagen wie Sturmbann-Befehlen. Für die Todeszahlen in den fraglichen Wochen wurden Deportationslisten genutzt. Wer bei der Ankunft keine Häftlingsnummer erhielt, war offensichtlich sofort ermordet worden.
Die Wachmänner können aber nur bestraft werden, wenn sie von der Vernichtung wussten. Und da nur Mord nicht verjährt, müssen sie auch den grausamen, heimtückischen Charakter der Tat gekannt haben. Dietrich geht davon aus, dass vor allem die Wachleute genau wussten, wozu die Lager dienten. Um im Gerichtssaal die Abläufe anschaulich machen zu können, hat die Staatsanwaltschaft eine 3-D-Reproduktion erstellen lassen. Wie in einem Videospiel kann man durch Auschwitz-Birkenau und das Stammlager Auschwitz gehen. „So können wir veranschaulichen, was die Wachleute gesehen haben“, erklärte Dietrich.
Bundesweit wird derzeit gegen rund 30 ehemalige Wachleute aus Auschwitz ermittelt, sechs von ihnen leben in Baden-Württemberg. In drei Fällen sieht Dietrich derzeit sogar dringenden Tatverdacht. Haftbefehle wurden aber außer Vollzug gesetzt. CHRISTIAN RATH