: „Einmal bekam er eine Postkarte“
Der grüne Europaabgeordnete Cem Özdemir über den Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz
taz: Herr Özdemir, Sie haben Murat Kurnaz am letzten Wochenende zum ersten Mal be-sucht. Wie war Ihr persönlicher Eindruck?
Cem Özdemir: Ich hatte nicht den Eindruck, dass mir jemand gegenübersitzt, der daran bastelt, wie er einen kulturellen Muslim wie mich oder meine jüdischen oder christlichen Freunde am schnellsten ins Jenseits befördert. Offensichtlich hat sich da ein Jugendlicher auf die Suche begeben. Er ist vom mystischen Gehalt des Islam sehr fasziniert.
Wie würden Sie Kurnaz beschreiben?
Das ist ein Mensch, der Humor hat, was man nach einem solchen Erlebnis nicht unbedingt erwarten würde. Als ich sagte, ein deutscher Pass sei eben doch manchmal ganz praktisch, schmunzelte er.
Will Kurnaz jetzt einen deutschen Pass beantragen?
Mittelfristig glaube ich schon. Ich hoffe, dass ihm die deutschen Behörden keine Knüppel in den Weg legen. Zunächst muss er seinen türkischen verlängern lassen, der seit Jahren abgelaufen ist.
Wie verhalten sich die türkischen Behörden?
Statt mal zu fragen, wie es ihm geht, hat das türkische Konsulat in Hannover einen Bescheid für den Wehrdienst geschickt. Das verrät schon ein erstaunliches Maß an Gefühllosigkeit.
Hat er Zukunftspläne?
Vielleicht findet er etwas, wo er seine Sprachkompetenz einbringen kann. Er spricht ja Arabisch, Türkisch, Deutsch und hat inzwischen Amerikanisch gelernt. Er wird seine Geschichte exklusiv verkaufen, und dann muss er in das ganz normale Bremer Leben mit der Familie zurückfinden.
Hilft ihm die Familie?
Seine Mutter hat viereinhalb Jahre den Kampf allein geführt. Als am Anfang Nachbarn, Politiker, Medien davon überzeugt waren, dass sie die Mutter eines Taliban ist, war das besonders schwer. Eine Frau ohne finanzielle Mittel, ohne juristische Vorbildung musste sich in den USA allein durchschlagen. Dies änderte sich erst, als Zweifel kamen, ob er nicht vielleicht doch unschuldig dort sitzt.
Bekommt Kurnaz ärztliche oder psychologische Hilfe?
Er sieht dafür selber keine Notwendigkeit. Er ist körperlich fit, geistig beweglich, ihm fehlen eben nur die Informationen aus mehr als vier Jahren. Im Gegensatz zu Natascha Kampusch hatte er nicht einmal ein Radio. Kurz vor der Ankunft in Deutschland haben ihm die Amerikaner einen dicken Umschlag ausgehändigt. Darin waren die ganzen Unterstützererklärungen, die er in der Haftzeit nicht gezeigt bekam.
Und Post von der Familie?
Er bekam einmal eine Postkarte, darauf stand die Anrede und der Abschiedsgruß, alles andere war durchgestrichen. Die durfte er fünfzehn Minuten behalten. Das hätte ihm ja Hoffnung machen können, dass da draußen eine andere Welt existiert, die sich für ihn einsetzt.
DANIELA WEINGÄRTNER