: „Es lebe Chile, verdammte Scheiße!“
RETTUNG Viel früher als gedacht und in einer genau geplanten Aktion werden die verschütteten 33 Bergarbeiter geborgen
VON JÜRGEN VOGT
„Chi-chi-chi-le-le-le – Los Mineros de Chile“ – Ganz Chile feiert seine Helden, die 33 verschütteten Bergarbeiter der Mine San José in der Atacama-Wüste. 69 Tage haben sie in fast 700 Meter Tiefe ausgehalten. Noch nie haben Menschen so lange unter Tage überlebt. Am Dienstagabend aber, als kurz nach Mitternacht Florencio Avalos nach 16 Minuten Fahrt als erster Verschütteter aus der Rettungskapsel „Fénix 2“ stieg, fand der Albtraum endlich ein Ende.
Der 31-Jährige wirkte ruhig und gefasst, umarmte seinen Sohn und seine Frau und schließlich den Staatspräsidenten. Lauter und fröhlicher ging es bei der Ankunft des zweiten Bergmanns zu. Mario Sepúlveda rief schon aus der Tiefe seiner Frau zu, dass er jetzt nach Hause komme. Mit einem kräftigen „Viva Chile, Mierda!“ („Es lebe Chile, verdammte Scheiße!“) ließ er sich um 1.09 Uhr Ortszeit aus dem Schacht ziehen. Der als „Journalist der Bergleute“ bereits weltbekannte Elektriker umarmte zunächst seine Frau und dann alle, die er vorfand. Fast hätte er vor Freude den Präsidenten übersehen, den er dann umso herzlicher umarmte.
Später übte er sich in Bescheidenheit. Er bedankte sich bei der chilenischen Regierung und den Helfern, die „Außerordentliches“ geleistet hätten. Dann bat er die Medien darum, ihn nicht als Star zu behandeln: „Ich will, dass Sie mich als den behandeln, der ich bin: ein Bergarbeiter.“
Chiles Präsident Sebastián Piñera war am Dienstagnachmittag bei der Mine eingetroffen, wo er bis zur Rettung aller Verschütteten bleiben wollte. „Wenn Chile sich vereint, ist es zu Großem fähig“, sagte er nach der Bergung des ersten Kumpels. Zugleich kündigte er die vorläufige Schließung der Mine an. „Diese Mine hat eine lange Geschichte von Unfällen. Darum werden wir es nicht erlauben, dass sie wieder geöffnet wird, solange sie nicht die Sicherheit und das Leben derer garantiert, die darin arbeiten.“
Die Rettung der am 5. August verschütteten Bergleute hatte er von Anfang an zur Chefsache gemacht und seinen Bergbauministers Laurence Golborne in die Atacama-Wüste beordert.
Als nach 17 bangen Tagen bekannt wurde, dass alle 33 Verschütteten noch am Leben waren, hatte man noch spekuliert, dass sich die Rettung bis Weihnachten hinziehen könne. Dann kam der Bohrer T-130 und mit ihm änderte sich der Zeitplan. Viel schneller als erwartet drehte sich der Bohrkopf zu den Verschütteten nach unten durch. Plötzlich war von November, dann von Oktober die Rede. Während Bergbauminister Golborne fast täglich vor Ort die versammelten Journalisten unterrichtete, wurde über und unter Tage die Rettung professionell bis in kleinste Detail geplant.
Systematisch wurden die Verschütteten physisch und psychologisch auf ihre Bergung vorbereitet. Der Umgang mit Journalisten wurde geübt. Bis hin zu den Sonnenbrillen, die sie nach über zwei Monaten Dunkelhaft vor den grellen Scheinwerfern und den Sonnenlicht schützen sollten, wurde an alles gedacht. Seit Dienstag kann die Welt über die vom staatlichen chilenischen Fernsehen gesendeten Livebilder sich davon überzeugen. Und bisher läuft alles nach Plan.
Nachdem die Rettungskapsel „Fénix 2“ mehrfach problemlos durch den Schacht geglitten war, stieg am Dienstagabend die erste von zwei Rettungskräften in die Röhre, um zu den Verschütteten zu gelangen. Livebilder zeigten, wie die Kapsel aus dem Loch in den Schacht einfuhr, in dem die Bergleute warteten. Seither wird im Stundentakt ein Bergmann nach dem anderen nach oben gezogen; bei Redaktionsschluss waren 16 Bergleute geborgen.
Bei der Rettung wurden zunächst „die geistig Fittesten“ an die Erdoberfläche geholt, die auf mögliche Schwierigkeiten mit der Kapsel besser reagieren können. Dann sollten die gesundheitlich Angeschlagenen folgen und am Ende die körperlich Stärksten. Zuletzt sollten die zwei Rettungskräfte nach oben gezogen werden. Nach einer ersten medizinischen Untersuchung werden sie ins Krankenhaus von Copiapó gebracht, wo sie mindestens zwei Tage bleiben sollen.
Staatsoberhäupter aus aller Welt entsandten gestern ihre Glückwünsche; Boliviens Staatspräsident Evo Morales flog am Mittwoch selbst zur Mine, um den einzigen Ausländer unter den Bergleuten, seinen Landsmann, den 23-jährigen Carlos Mamani, zu empfangen.
Das Leben der Kumpel werde sich völlig ändern, sagte der Psychologe Sergio Gonzalez von der Universität Santiago. „Bevor sie Helden sind, sind sie in erster Linie Opfer. Aber diese Männer, die vom Grund der Mine heraufkommen, sind andere Menschen geworden – und ihre Familien auch.“