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Archiv-Artikel

Zug ins Nirwana

AUS KALDENKIRCHEN UND VENLO HENK RAIJER

Spätestens in Viersen ist der Fahrplan Makulatur. Mit Blick auf unendlich lehnt der Maschinist aus dem Fenster seines Führerhauses und schaut zu, wie an Gleis 3 hunderte Grenzgänger den Regionalexpress nach Venlo zu entern versuchen. Von Langmut keine Spur, Rentner pöbeln, was das Zeug hält, eine Gruppe 18-Jähriger aus Krefeld drängt eine alte Ordensschwester von der Wagentür ab. Beim Versuch, noch ein armbreites Plätzchen im Fahrradabteil zu ergattern, keilen sich flott gestylte Rennpedaleure mit jungen Biertrinkern in Jeans oder Jogginganzügen. Zehn Minuten lang. „Jeden Samstag das gleiche Spiel“, stöhnt der grauhaarige Bahner. „Zwei Fuhren am Vormittag, zwei Fuhren am späten Nachmittag zurück. In den Stunden dazwischen ist die Bude eher normal gefüllt.“

Der Maas-Wupper-Express kennt keine Klassen – alle, die sich Samstag für Samstag in die überfüllte Regionalbahn quetschen, haben gleich wenig zu verschenken. Und alle haben dasselbe Ziel: das Shoppingparadies jenseits der Grenze. Einen Unterschied gibt‘s: Die einen fahren bis zur Endstation, um sich in der Venloer City mit Kaffee, Tabak und Erdnussbutter einzudecken, die anderen steigen schon in Kaldenkirchen aus und setzen ihren Weg entlang der Gleise fort, um sich an der Venloer Peripherie ein paar Gramm White Widow oder Silver Haze zu besorgen. Für Erstere bilden die „Frietjes“-Buden und „Die 2 Brüder von Venlo“ das Ziel ihrer Reise, für Letztere die Coffeeshops Oase und Roots, die Venlo wegen der Drogentouristen in der City nicht mehr dulden wollte und nun seit zwei Jahren am alten Grenzübergang ihr neues Domizil haben.

Hin- und Rückfahrt gehen im Maas-Wupper-Express an Samstagen nur selten reibungslos über die Bühne. Der gemeinsame Transport vom Niederrhein ins holländische Mekka für Kiffer und Schnäppchenjäger spannt auch an diesem sonnigen Vormittag Familien wie Teenager gleichermaßen auf die Folter. Da wird gerempelt und geflucht – auf Niederrheinisch und Türkisch, aber auch auf Polnisch und Russisch. Alle paar Meter verwöhnt ein jeweils anderes Mobiltelefon die Reisenden mit den musikalischen Vorlieben seines Besitzers. Wer protestiert, erntet nur Grinsen. „Na denn hol‘ doch den Schaffner“, blökt ein breitschultriger Jugendlicher eine schwitzende Frau im überfüllten Mittelgang an.

Kurz vor Kaldenkirchen eskaliert ein seit dem Bahnhof Breyell währender Disput zwischen einem 20-Jährigen und einem etwa 45-jährigen Mann über den Quadratmeter Platz, den dieser wegen seines Umfangs Mitreisenden angeblich streitig macht. Als dessen Frau laut keifend dazwischen geht, brüllt der inzwischen wutschnaufende Jüngling sie an: „Schrei‘ nicht so rum hier!“ Ihren Gatten fordert er auf: „Komm‘ in Kaldenkirchen mit raus, sonst stech‘ ich dich ab!“ Der Mann bleibt ganz ruhig und bedeutet dem tobenden Twen, er möge seine Drohungen unterlassen. „Mach‘ du dich in deine Oase und beruhig‘ dich erstmal.“ In diesem Ambiente Fahrscheine kontrollieren zu wollen, käme einem Selbstmordkommando gleich. Denkt sich wohl auch der Schaffner, der erst beim Massenexodus in Kaldenkirchen wieder in Erscheinung tritt. Abermals braucht es Minuten, bis ein halbes Dutzend Jungspunde seine Blechgerippe aus dem Rädergewirr befreit hat. Der Zugbegleiter wartet geduldig auf dem kopfsteingepflasterten Bahnsteig, Kollege Lokführer schaut den gut hundert meist männlichen Jugendlichen beim Verlassen des Bahngeländes nach. „Schlimm, diese Abhängigen“, kommentiert eine junge Frau im Rollstuhl, die zehn Minuten zuvor ihrer Begleiterin vorgerechnet hat, dass die Packung Drum in Venlo 50 Cent billiger komme. „Außerdem kriegste da fünfzig statt vierzig Stück raus.“

Das konsumgeile Überfallkommando aus dem Osten lässt in Venlo nicht erst seit „Schengen“ die Kassen klingeln. „Butterfahrern“ von Rhein und Ruhr ist die holländische Grenzstadt seit Jahrzehnten ein Begriff. Doch seit Öffnung der innereuropäischen Grenzen im Jahre 1995 sind neben den oftmals mehr als 10.000 Kauflustigen aus dem Nachbarland heute täglich bis zu 4.000 Drogentouristen in der Stadt. Sie suchen die „legalen“ Verkaufsstellen auf, entweder um in schummriger Atmosphäre einen Joint zu rauchen oder von dort die zulässige Menge von fünf Gramm Marihuana für den eigenen Gebrauch mit nach Hause zu nehmen. Die Gefahr, dabei vom Bundesgrenzschutz erwischt zu werden, ist trotz gelegentlicher Kontrollen relativ gering.

Die Sorge müssen die Kunden von Albert Heyn, Aldi und den „2 Brüdern“ gar nicht erst haben. Und so fallen auch an diesem warmen Spätsommersamstag in der Stunde vor Beginn der ARD-Sportschau hunderte Niederrheiner und Ruhrpöttler in den Venloer Bahnhof ein: die Erwachsenen mit Plastiktüten und Einkaufsrollis bewaffnet, die Kleinen vereinzelt mit der ortsüblichen, unten spitz zulaufenden Pommestüte in der Hand, aus der eine übermäßige Portion Mayo zu entweichen droht. Der Tag war anstrengend, das Bier ist warm, der Zug hat Verspätung, die Kurzen quengeln, so manches Eheglück steht auf dem Prüfstand.

Gut eineinhalb Kilometer weiter in Richtung Grenze ist von Anspannung nichts zu spüren. Nur hundert Meter von der Oase entfernt, im berauschenden Ambiente zwischen Autobahnauffahrt und Schrottplatz, haben es sich am Wegesrand mehrere Dutzend Jugendliche bequem gemacht. Peace and Understanding aller Orten, so manch einer hat sich den zugedröhnten Kopf zwischen die Knie geklemmt und das Palaver mit den Kumpels fürs erste eingestellt. Die Bundesliga ist hier kein Thema.

Wer in die Oase will, muss sich ausweisen. Türsteher in schwarzer Kluft passen genau auf, wer auf den Parkplatz fährt. Ein junges Pärchen aus Mönchengladbach verlässt gerade das Haus und strebt der breiten Straße zur Grenze zu. „Wir kommen oft hierher, uns gefällt die lockere Atmosphäre in der Oase“, sagt sie für ihn, den der süßliche Geruch von Grass mehr als subtil umweht. Jenseits des alten Grenzübergangs wählen die beiden wie auch die anderen den gut zwei Kilometer langen Fußweg entlang der Gleise, der schnurstracks zum Bahnhof Kaldenkirchen führt. Vom Garten seines Bungalows aus betrachtet ein Anwohner den Treck gen Osten. Nein, Ärger machten die jungen Leute eigentlich nicht, sagt der Rentner, der erst vor einem Jahr hierher gezogen ist. „Die schmeißen schon mal was in meinen Garten oder drüben ins Gebüsch, wenn der Grenzschutz plötzlich um die Ecke gefahren kommt“, erzählt der weißhaarige Mann. „Ich heb‘ das aber nicht auf, die holen sich das ja eine halbe Stunde später wieder ab.“

Kurz vor Ankunft des nächsten Regionalexpress‘ aus Venlo legen die Heimkehrer einen Schritt zu. Aus Kaldenkirchen kommen ihnen immer wieder Pilger entgegen, die sich auf ein paar anregende Stunden in der Oase freuen. „Vier Freunde und Helfer mit Wachhund hinter dem Schuppen vorm Bahnhof“, warnt ein etwa 20-Jähriger mit dem Schriftzug „Notorious“ auf seinem T-Shirt diejenigen, die womöglich ein paar Gramm Stoff fürs Wochenende in der Tasche haben.

Als der Maas-Wupper-Express ächzend zum Stillstand gekommen ist, drängen die mit den Rädern auch dort hinein, wo sich junge Mütter mit Einkaufstüten und Kinderwagen gerade einen Platz erkämpft haben. Ein bulliger Typ mit Studiobräune und zwei Bier zu viel ergreift Partei. Er packt einen der Zugestiegenen am Ärmel und schleift ihn samt Rad zurück zur Tür. Ein wilder Disput entspinnt sich im Wagen, Vorwürfe werden immer lauter, wenn auch nicht grad deutlicher artikuliert. Draußen auf dem Bahnsteig harren Dutzende mit selbst verordnetem Phlegma der Dinge. Ein Schaffner arbeitet sich vor, der Zug steht fürs erste.