: Der beste Ort der Welt
IDENTITÄT Heimat ist das Dorf, aus dem wir kommen. Vielleicht noch das Land, das wir beim Endspiel bejubeln. Aber kann die EU ein Zuhause sein? Zu Besuch bei Silvana Koch-Mehrin, Luuk van Middelaar, Moritz Hartmann und Robert Menasse – vier Europäern
5 Sätze, mit denen Sie als guter Europäer punkten können.
■ 1. „Heimat bedeutet Wahlheimat.“ (Intellektuell, aber nicht verstiegen. So erkennt Sie jeder als Kosmopoliten.)
■ 2. „Lieber ein Brüsseler Beamter im Leerlauf als ein Kanonier in Verdun.“ (2014. Weltkriegsjubiläum. Sie zeigen sich geschichtsbewusst und zukunftsoffen.)
■ 3. „Heimat ist Europa in klein.“ (Klingt gut. Und so richtig.)
■ 4. „Europa ist die Geschichte einer Vergewaltigung.“ (Eine Prise Feminismus würzt jede Diskussion. Und: Zeus als Stier verführt die Königstochter Europa – Sie haben Ihre alten Griechen gelesen.)
■ 5. „Cheri, Cheri Lady. To know you is to love you.“ (Europahymne, noch inoffiziell. In kulturellen europäischen Zentren wie dem Ballermann bereits gesungen.)
AUS BRÜSSEL UND BERLIN PETER UNFRIED
Silvana Koch-Mehrin traf in Arizona auf einen Sheriff, der sich während eines Dinners damit brüstete, wie mies er seine Gefangenen behandelte. Dass Männer bei ihm rosa Unterwäsche zu tragen hatten. Dass sein Gefängnisessen billiger als sein Hundefutter war. Er wurde immer begeisterter und Koch-Mehrin wurde immer übler, und auch andere EU-Delegierte konnten nicht mehr weiteressen. Als alles vorbei war, trafen sich die Europäer zu einer Sondersitzung. „Da war ich erleichtert zu sehen, dass wir als Wertegemeinschaft funktionierten“, sagt Koch-Mehrin.
Die Frage lautet: Wie wird man eine echte Europäerin? Koch-Mehrins Geschichte soll eine große Antwort vermitteln: Man muss – bei allen Defiziten – nur von außen auf Europa und die EU schauen, dann sieht man schnell, was man hier hat. An Freiheit, an Sicherheit, an Bürgerrechten.
Die Europa-Wahl am 25. Mai konfrontiert ja viele mit einem unbewältigten persönlichen Prozess: Wen wähle ich und wenn ja, wozu? Um deutsche Interessen zu vertreten, ideologische oder inhaltliche, Parteiinteressen oder die Interessen der EU? Selbst wenn man keine Angst vor Globalisierung hat, kein Hassobjekt braucht und überhaupt nicht der Meinung der Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht ist, die die EU bisweilen für eine „neoliberale, militaristische, weithin undemokratische Macht“ hält; selbst wenn man die EU rational akzeptiert, so ist doch die Frage: Was macht mein Europäertum aus und wie erlebe ich es?
Koch-Mehrin isst Brot, ihr irischer Mann Porridge
Silvana Koch-Mehrin empfängt in der Abgeordneten-Lounge im ersten Stock des EU-Parlaments, einem Ort des Sehens und Gesehenwerdens. Polstermöbel, gedämpfte Atmosphäre. Koch-Mehrin ist 43. Hat einen festen Händedruck. Ist seit zehn Jahren für die FDP im EU-Parlament. Laut Eigendefinition eine „glühende Europäerin“ und im Gegensatz zu den meisten Parlamentskollegen keine Pendlerin, die schon am Donnerstagnachmittag abreist. Sie ist Teil der EU-Welt, aber sie lebt auch wirklich in der belgischen Hauptstadt. Schon bevor sie 2004 ins Parlament gewählt wurde. Mittlerweile hat sie länger in Brüssel gelebt als irgendwo sonst, einschließlich Köln, wo sie aufgewachsen ist. Sie sei und bleibe auch Kölnerin in Abgrenzung zu Düsseldorf, aber in Bayern sehe sie die Vorzüge von Nordrhein-Westfalen, in Belgien die von Deutschland und in den USA die von Europa. Das sei eine Frage der jeweiligen Perspektive, mit welcher Identität man sich verknüpfe. Man müsse die alte auch nicht für die neue aufgeben: „Es kommt nur eine weitere Dimension dazu.“
Und was ist nun ihre Heimat – Brüssel?
„Heimat würde ich das nicht nennen“, sagt sie. Es gebe „ein Gefühl der Vertrautheit“.
Koch-Mehrin wurde als Glamourfrau der deutschen Politik inszeniert und beschrieben; blonde Haare, blaue Augen, lange Beine und so weiter. Wie weit sie das aktiv betrieb und ab wann es ihr nur noch geschah, spielt hier keine Rolle. Es machte sie jedenfalls national zur bekanntesten Europa-Politikerin nach dem Grünen Daniel Cohn-Bendit. Erst war die Berichterstattung weitgehend positiv, dann weitgehend negativ, nach der Aberkennung ihres Doktortitels 2013 nur noch hämisch. Ihre Parteikarriere ist zu Ende. Im Mai scheidet sie aus dem Parlament aus, bleibt aber in Brüssel. Sie hat eine Stiftung gegründet: „Women in Parliaments Global Forum“ soll die 9.000 Frauen in den Parlamenten der Welt vernetzen und ihren Anteil von derzeit 20 Prozent steigern. Im Gegensatz zur FDP war sie immer für die Quote. „Ohne Quote dauert’s einfach zu lange“, sagt sie.
Ihre drei Kinder sind 10, 8 und 6. Sie sind in Brüssel geboren und gehen hier zur Schule. Im Regelfall gruppieren die EU-Brüsseler sich um ihre Landesschulen, die Franzosen ziehen in die Nähe der französischen Schule, die deutschen gehen in die deutsche. Oder sie geben die Kinder auf eine Europaschule. Koch-Mehrins Kinder gehen auf eine Schule, in der in Englisch und Französisch gelehrt wird. Ihr Mann ist Ire, an ihm hängt ein großer Familienclan. Mann und Kinder essen morgens Porridge und verständigen sich auf Englisch, sie isst Schwarzbrot und mit ihr reden die Kinder deutsch.
Sie lacht beim Gedanken daran, wie sie in Brüssel plötzlich anfing, deutsches Schwarzbrot zu mögen. Sie lacht überhaupt viel und redet sehr geradeaus. Ihre Arbeitssprache tagsüber ist Englisch, weshalb sie auf Deutsch auch solche Sachen wie „ich war erleichtert, zu sehen“ sagt.
Ansonsten haben die Kinder Freunde aus Finnland, der Türkei, China. „Das Konzept des Ausländers gibt es für die nicht“, sagt Koch-Mehrin. „Sie haben nicht das Gefühl, dass ihnen jemand fremd ist, weil er nicht so ist wie sie selbst.“ Sie leben ohne „Judging“. Andere abwerten. Das Gerüst eines Denkens in nationalen oder ideologischen Stereotypen.
Koch-Mehrin hatte den klassischen Zugang zum Europäerinnentum: EU-Praktikantin und ein Jahr in Straßburg mit dem Erasmus-Austauschprogramm der EU. Sie war also schon Europäerin, bevor sie ins Parlament kam, und fiel in den folgenden Jahren eher zurück ins Nationale, als sie für die FDP und ihren damaligen Parteivorsitzenden Guido Westerwelle permanent in Deutschland präsent war.
Warum lieben wir die EU nicht, Frau Koch-Mehrin? „Die EU ist eine effiziente Verwaltung. Eine Verwaltung zu lieben, ist schwer“, sagt sie. „Und wer liebt schon Abkürzungen?“ Das erinnert an den Satz des früheren EU-Politikers Jacques Delors: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.“ Koch-Mehrin findet die Europafahne „super“, sie glaubt an emotionale Verbindungen, über Symbole und auch über Sport, Essen, Liebe, gemeinsame Erinnerung. „Natürlich braucht man politische Institutionen für einen soliden Rahmen, aber Europa als bester Ort der Welt, das kann man nicht mit Richtlinien begründen“, sagt sie.
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In Brüssel fängt der Irrsinn wirklich schon an. Allerdings nicht beim zurückgenommenen Olivenölkännchenverbot oder anderen Beispielen für den angeblichen Regulierungswahn eines demokratiefeindlichen Irrenhauses in den Krallen von Wirtschaftseliten.
Brüssel, so heißt es, sei das Herz von siamesischen Zwillingen, die sich hassen: Flandern und Wallonien. Die beiden Teile Belgiens haben ihre eigenen Sprachen, Parteien, Zeitungen und Fernsehsender: Das einzige, was beide wohl gemein haben, ist die Ablehnung ihrer Hauptstadt, dritte Großregion des Landes, in der eine relative Mehrheit französisch spricht, es aber keine Mehrheitsidentität mehr gibt. Draußen am Flughafen sitzt die Nato. Und mitten in der Stadt die EU. Das Europäische Parlament als direkt gewählte Vertretung der 506 Millionen Bürger. Die Kommission als Europas Verwaltung und der Rat, über den die Mitgliedsstaaten ihre nationalen Interessen verteidigen. Zwischen Place du Luxembourg und Rond-Point Schumann arbeiten mehr als 30.000 EU-Beamte. Man erkennt sie am Dresscode, bei Männern ist das überwiegend blauer Anzug und rote Krawatte.
Jetzt kommt gerade so ein Blauanzug in die Brasserie 1898, reißt sich drei oder vier Namensschildchen vom Hals und wirft sie auf den Tisch. Das ist Luuk van Middelaar, Kabinettsmitglied des Präsidenten des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy. Genauer gesagt: sein Redenschreiber. Die Ausweishalskette ist im EU-Quartier omnipräsent und unterscheidet den Dazugehörigen vom Gast. Weil der chinesische Präsident Xi Jinping zu Besuch ist, braucht selbst van Middelaar zusätzliche Zugangsberechtigungen, um sich frei bewegen zu können.
Van Middelaar ist Philosoph und Historiker und stammt aus dem niederländischen Eindhoven. 40, dunkelblond, man ist versucht zu sagen: Sieht aus wie ein Holländer. Er kam als Student erstmals nach Brüssel, „aus Neugier“. Er ist ein Liberaler, war Mitglied der rechtsliberalen Volkspartei für Freiheit und Demokratie und trat 2010 aus wegen deren nationalistischer Politik. Van Rompuy ist als Ratspräsident eine Art Moderator der Verhandlungen der 28 Staats- und Regierungschefs. Er entdeckte van Middelaar durch dessen Zeitungskolumnen und ein Buch mit dem Titel „The Passage to Europe“. Es ist bereits ein Klassiker und in diversen Sprachen erschienen. Auf Deutsch allerdings nicht.
Van Middelaar malt Kreise auf einen Bierdeckel. Das macht er öfter und das kommt ja auch immer gut. Einen Kreis, den er die „Brüsseler Blase“ nennt, das sind die Institutionen und Protagonisten draußen vor der Tür der Brasserie. Drumherum kommt ein Kreis, den er EU-Club nennt, das sind die 28 Mitgliedstaaten. Und da herum kommt ein Kreis für Europa als Raum mit Ländern mit ihrer jeweils eigenen Identität und Geschichte. In der Blase weht die EU-Flagge, im äußeren Kreis nur die Nationalflaggen. Aber was er in seinem Buch neu definiert, ist der Zwischenkreis, in dem EU- und nationale Fahnen wehen. „The keyword here is ‚zusammen‘“, sagt er. Er spricht Englisch, aber er streut deutsche Worte ein. ‚Zusammen‘ im Gegensatz zu Vereinigung. „Wir wollen nicht eins sein, wir wollen nur zusammen sein.“
„Europa ist kein Ufo“, sagt der Redenschreiber
Er sieht sich im Gegensatz zu den Beamten und Karrierediplomaten um ihn herum als Außenseiter. Er muss die richtigen Worte aus der Blase heraus finden, frei von EU-Bürokratieslang. Aber er weiß, dass die starken Emotionen bis heute mit Anti-EU-Argumenten und Angst entfacht werden.
Warum lieben wir die EU nicht für ihre guten Seiten?
„Ich bin Intellektueller“, sagt er freundlich, „mein Ansatz ist intellektuell.“
Aber die große emotionale Resonanz auf das Argument, Europa sei ein Zug , der immer schneller fahre und gestoppt werden müsse, hat ihn sehr frustriert. „Europa bewegt sich nicht von selbst. Es ist kein Ufo, das in Brüssel gelandet ist. Europa ist eine Antwort auf die Geschichte, die politische Realität und die Welt um uns herum. Eine Antwort auf Globalisierung, Energiekrise, Klimawandel, Russland.“
Wo ist seine Heimat? „Hier in Brüssel, schätze ich mal. Meine Familie ist hier.“ Seine Frau ist Niederländerin und Künstlerin. Sie wohnen nicht in der niederländischen Kolonie, sondern in belgischer Nachbarschaft. Der Sohn geht auf eine belgische Schule und lernt dort Französisch, obwohl sie zu Hause Niederländisch sprechen. Die flämischen Freunde verstehen das überhaupt nicht. „Bei denen sind wir fast Verräter“, sagt er. Ein Scherz. Und auch wieder nicht.
Sind Sie EU-Patriot?
„Nein, ich bin kein EU-Patriot.“
Warum nicht?
„Weil EU-Patrioten auf die Einheit fixiert sind. Aber Europa ist vielfältig. Ganz anders als die USA. Europäische Politik ist immer gefangen zwischen der Notwendigkeit zur Einheit und der existierenden Vielfaltigkeit.“
SILVANA KOCH-MEHRIN AUF DIE FRAGE, WAS BRÜSSEL FÜR SIE BEDEUTET
Er hat drei Strategien beobachtet, mit denen man bisher versucht hat, europäische Identitäten zu schaffen. Die römische Strategie. Über Resultate, Reisefreiheit, billiges Telefonieren. „Sie ist populär, weil wir keine bessere haben.“
Sie ist aber nicht solidarisch, weil sie immer national fragt: Was bringt uns das?
Die griechische Strategie. Ein Appell an die Demokratie, die gemeinsame Sache der europäischen Bürger jenseits des Interesses einer nationalen Regierung, die ja eben nicht immer deckungsgleich mit dem ihrer Bürger ist. Bescheidene Erfolge.
Die deutsche Strategie. Angelehnt an Herder und Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ soll Nation Building auf Europa übertragen werden, mit gesamteuropäischen Helden und Geschichtsbüchern. Aber war der britische Seefahrer Sir Francis Drake nun ein Held oder ein Pirat? Die einen sagen so, die anderen so.
Es gebe durchaus eine europäische Identität, sagt van Middelaar. Aber man könne diese Identität nur von außen sehen. Er, zum Beispiel, sieht, dass Flamen und Wallonen jede Menge gemeinsam haben. Sie sehen es nicht. Und er sieht, wie auf dem Maidan von Kiew die EU-Fahnen wehen.
„Europa als Ort des Friedens und der positiven Emotionen, das ist außerhalb viel lebendiger als in der EU.“
Woraus folgt?
Er überlegt. „Das ist schade, aber es ist so“, sagt er.
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Heimat ist ein Sehnsuchtsort, ein Gefühl der Sicherheit, etwas, was sich an einer gemeinsamen Vergangenheit orientiert. Das EU-Brüssel ist derzeit kein Sehnsuchtsort, es steht für die Zukunft, in der sich etwas ändert. Eine Gegenwart, die sich bereits geändert hat. Das löst alles andere als ein Gefühl der Sicherheit aus. Und doch ändert sich bereits etwas, wenn man dort war und sich in die Materie eingearbeitet hat. Die EU wird sichtbarer, konkreter, verständlicher. Man begreift den Unterschied zwischen Inhalt und Verfasstheit. Dass man also die EU-Kommission akzeptieren und gleichzeitig die Ölkännchenrichtlinie missbilligen kann – genauso wie man eine nationale Regierung kritisiert, aber den Staat nicht mehr grundsätzlich ablehnt wie in der guten, alten Zeit. Europa kommt näher, sobald man selbst näher rangeht.
So gesehen fehlt es schon am Elementarsten. Etwa Medien, einem öffentlich-rechtlichen EU-Fernsehen. Einer Entwicklung der überregionalen, aber nicht übernational tickenden Zeitungsredaktionen. Oder erst mal dem verbindlichen Schul- oder Kegelclub-Ausflug nach Brüssel – statt immer nur nach Berlin.
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Der Schriftsteller Robert Menasse ging aus seiner Heimatstadt Wien nach Brüssel, um einen Roman zu schreiben, dessen Hauptfigur ein Beamter der Europäischen Kommission ist. Er lebte dort, sah sich die europäischen Institutionen an, sprach mit unzähligen EU-Beamten, wodurch sich für ihn viele der kursierenden Vorurteile als gegenstandslos erwiesen. Er erlebte die gefürchtete EU-Bürokratie als effizient, schlank und transparent und die Beamten als qualifiziert und befreit von „nationaler Verbiesterung“. Zurück kam er mit dem furiosen Essay „Der Europäische Landbote“. Und als überzeugter Europäer. Oder präziser gesagt: Mit der Überzeugung, dass europäische Geschichte mit der Bildung von Nationalstaaten unmöglich abgeschlossen sein kann. Damit ist er für andere schon wieder ein Wortführer der „Europhoriker“, wie sie die Zeit nannte – jener, die es angeblich übertreiben mit Europa.
Menasse ist für einen EU-Vortrag nach Berlin gekommen, er ist die deutschsprachige Nummer eins für Vorträge zur Europäischen Union. Jetzt sitzt er in einem Abendlokal in Berlin. Offenbar total in. Drumherum lauter bildhübsche junge Europäer. Aber vor allem handelt es sich um eine Raucherkneipe. Er hatte auch in Brüssel einen Raucherclub als Stammlokal.
Menasse sieht in etwa so aus, wie man sich einen Wiener Intellektuellen vom Jahrgang 1954 vorstellt. Trägt schwarz, aber nicht existenzialistisch übertrieben, sondern leger. So ähnlich redet er auch, getreu seinem Diktum: „Humor ist das Licht im Tragischen.“
Er skizziert, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die Montanunion gegründet wurde, um nach vier großen Kriegen binnen 100 Jahren Frieden zu sichern, und wie sich daraus EWG und EU entwickelten. Er skizziert die europäische Geschichte und wie die Entstehung von Nationalstaaten und der Nationalismus zu einer endlosen Reihe von Verbrechen und Kriegen und schließlich zu Auschwitz führte. Der Nationalismus ist für ihn ein Verbrechen, Nation eine Fiktion, nationale Identität ein Betrug. Bitte, was mache ihn denn als Österreicher aus?
Eine Nation braucht man für Sport und Wetterkarten
Er habe eine Heimat, sagt Menasse, Heimat sei ein Menschenrecht. Aber Heimat decke sich unmöglich mit dem Territorium des Nationalstaats. Die Nation sehe man nur auf der Wetterkarte und beim Sport. Und die österreichischen Identifikationsangebote bestünden aus Bergen und Lederhosen, der Selbstdarstellung als Alpenrepublik. „In Wien gibt es keine Berge, niemand jodelt und ernährt sich von Mozartkugeln. Ich sehe mich in diesem Österreichbild nicht! Die Wahrheit ist: Österreich hat keine Nationsidee.“ Das sei jetzt ein Startvorteil in Hinblick auf die nachnationale Entwicklung.
Menasse ist ein Großbürger, Teil einer Elite. Da kann man leicht für die EU sein, lautet der Vorwurf von ganz rechts und ganz links. Aber was ist mit dem Arbeiter?
„Elitedenken haben diejenigen, die stolz auf ihre nationale Zugehörigkeit sind: Sie fühlen sich besser und anderen Nationen überlegen“, sagt Menasse. „Da sieht man, wie irrational das ist: stolz auf etwas zu sein, wofür man nichts kann.“
Nationalstaat sei, wenn der Arbeiter glaube, er habe mit den wirtschaftlichen Eliten seines Landes mehr gemeinsam als mit dem Arbeiter einer anderen Nation. „Mit der Folge, dass die Arbeiter aufeinander geschossen haben und gemeinsam verreckt sind.“ Und blöderweise säßen die europäischen Linksparteien durch die Verteidigung von nationalen Arbeitsmärkten in der Nationalismusfalle. Entweder die Linke internationalisiere sich wieder oder sie gehe unter.
Abgeordnete sitzen derzeit im Europäischen Parlament. 36 Prozent davon sind Frauen
[Quelle: Europäisches Parlament]
135,5
Milliarden Euro hat die EU 2014 zur Verfügung. Der deutsche Haushalt ist mehr als doppelt so groß
[Quelle: EU-Kommission, Bundesfinanzministerium]
52
Prozent ihrer Bürger fühlen sich nicht mit der EU verbunden. Das gilt vor allem für Arbeitslose
623
Praktikanten arbeiten seit März 2014 bei der EU-Kommission. Beworben hatten sich 14.642
[Quelle: Europäische Kommission]
2
Millionen Seiten hat die EU-Kommission 2013 übersetzt. Das kostete 330 Millionen Euro
[Quelle: Europäische Kommission]
322
Tage bleibt das EU-Parlament in Straßburg in diesem Jahr leer. Nur 11 Sitzungen finden hier statt
[Quelle: Europäisches Parlament]
3
Millionen Studierende gingen seit 1987 mit dem Erasmus- Programm ins Ausland
[Quelle: Europäische Kommission]
75
Prozent eines Apfels müssen rot sein, damit er laut EU in die Klasse Extra, Färbegruppe A fällt
Tatsächlich gebe es ja nichts mehr, was noch national funktioniere: Wertschöpfung, Finanzströme, Kommunikation, ökologische Probleme, alles sei transnational geworden. Insofern halte er den europäischen Prozess für „vernünftig, faszinierend, geschichtslogisch“. Die EU ist für ihn eine politisches Projekt, derzeit auf Basis des kapitalistischen Wirtschaftens, aber deswegen nicht logisch ein „neoliberales Projekt“. Den Neoliberalismus könne man in die Struktur reintun, müsse man aber nicht.
Mitternacht ist vorbei. Robert Menasse holt tief Luft, beugt sich nach vorn und sagt: „Wenn man begriffen hat, dass die europäische Idee nachhaltiger ist als das jetzt herrschende Wirtschaftssystem, dann ist man geheilt vom Gefühl der Aussichtslosigkeit von politischem Engagement. Wir müssen und wir können endlich die neue Demokratie erkämpfen, die nachnationale europäische Demokratie. Eine Demokratie, in der die Chancen der Bürger nicht mehr abhängen von der ungleichen Größe, der ungleichen wirtschaftlichen Macht und dem ungleichen politischen Einfluss der jeweiligen Nationen.“
Dann schaltet er das Aufnahmegerät aus. Die schönen Europäer in Berlin diskutieren so lautstark, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht.
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Moritz Hartmann ist Teil des europäischen Erasmus-Milieus, das sind Studierende, die mit einem EU-Austauschprogramm eine Zeit ihres Studiums im Ausland verbringen. Er war in Paris. Gemeinsam mit Floris de Witte hat er ein flammendes Manifest der europäischen Generation der unter 40-Jährigen geschrieben. Es ist auch eine flammende Kritik an der Politik der EU in der Finanz- und Schuldenkrise.
Den Anstoß gibt ein Symposium über Europa, von der Stiftung Mercator gesponsert und komplett auf Europa als Binnenmarkt fixiert und auf dessen Behauptung gegen China, die USA, Russland und Indien. „Das ist nicht unser Europa“, denkt Hartmann und gründet mit anderen „Re:generation Europe“, um in der Krise Europas das Bild von dem Europa zu skizzieren, das sie jeden Tag erfahren – auch von Mercator gesponsert.
Generation Europa in Tallinn und Barcelona
Hartmann ist 30 und Jurist kurz vor dem Abschluss. Kein Seitenscheitel, aber auch kein Hoodie-Typ. Stammt aus Gießen. Er sagt, er lebe als Europäer im europäischen Berlin. Gerade sitzt er in einem Café im Bezirk Kreuzberg, neben ihm am Tisch wird Spanisch gesprochen. Heimatgefühle, sagt er, könne die Generation Europa auch in Barcelona und Tallinn haben. Seiner Peergroup sei die Distanz zu Europa fremd, die ihre Großeltern noch hatten. Er verstehe ein offenes und freies Europa als Realität. Nun will er eine Zukunftsperspektive, die über das Friedensprojekt, die geopolitische Bedeutung und den Binnenmarkt hinausweist.
Auf keinen Fall will Moritz Hartmann sich auf den sogenannten Easyjetset reduzieren lassen. Die gelebte Erfahrung mit Europa ist das dynamische Moment. „Es schafft ein Selbstverständnis des Europäischen, das in alle Kanäle unserer Lebenswelt diffundiert“, sagt er. Es könne dazu führen, dass in 15 Jahren in der Brüsseler Kommission „Europäer aus Deutschland sitzen“. Mit Betonung auf Europäer.
Ja, Erasmus-Stipendiaten kommen meistens aus der akademischen Mittelschicht. Doch es wäre ein Missverständnis, zu glauben, es handele sich hier um Dandys ohne Zwang zum Broterwerb. Ihre Sorge gilt sehr konkret auch künftigen Arbeitsplätzen und dem „Geld, das wir nicht mehr haben werden“.
Sie sehen die Ökonomie bei der Europäischen Union nicht gut aufgehoben. Doch es geht ausschließlich um das Wie und nicht mehr um das Ob. Der Nationalstaat ist für sie der Aussteller ihrer Reisepässe; aber er ist nicht ihre Zukunft, nicht ihre Heimat und schon gar nicht ihre Sehnsucht.
■ Peter Unfried, 50, ist Chefreporter der taz. Auf dem taz.lab an diesem Samstag moderiert er ein Gespräch mit Katja Kipping, Toni Hofreiter und Berthold Franke zu der Frage, warum die EU nicht unsere Heimat ist