: Der Briefwechsel
Kein Thema ist Eltern wichtiger. Nirgendwo verbringen Kinder tagsüber mehr Zeit. Die Schule vermittelt Wissen und entscheidet mit über Erfolg und Misserfolg im Leben. Was denken SchülerInnen über Lehrer, Mitschüler, Lehrpläne, Reformen und Verbote? Was meinen LehrerInnen dazu? Hier erscheint in loser Folge ein Austausch zwischen SchülerInnen und LehrerInnen. Lust aufs Briefeschreiben? bildung@taz.de
DIE FRAGE
Dürfen Mädchen mehr?
Letztens sitze ich mal wieder im Physikunterricht und schaue aus dem Fenster. Ich versuche gerade wirklich zu verstehen, warum das Lämpchen da vorn nicht leuchtet, aber die Worte des Lehrers rauschen vorbei. Also hole ich mein Handy raus und schreibe mir mit meiner Sitznachbarin auf WhatsApp. Ich kriege mit, wie der Lehrer Ali anmeckert, weil er so sitzt als wäre er in ’ner Bar. Ich setzte mich wieder normal hin, so als hätte ich nie im Schneidersitz gesessen. Ein paar Minuten später meckert der Lehrer mich an: „Deine Augen sind echt wunderschön, aber das bringt uns beiden nichts, wenn du dich nicht meldest, sondern die ganze Zeit nur nach vorne starrst.“
Als Mädchen kannst du die ganze Stunde reden, und wenn du dich dann zweimal meldest und etwas Richtiges sagst, wirst du gelobt und hast vielleicht schon eine 3 sicher. Das passiert so häufig in meinem Schulalltag, das ist echt erschreckend. In Chemie wurde einer Freundin sogar die 6 im Test gestrichen, weil sie so ein charmantes Lächeln habe. Jungen haben es da schwerer. Wenn denen einmal der Stift auf den Boden fällt, herrscht sofort Krieg.
Ist Ihnen das auch schon einmal bei KollegInnen aufgefallen oder erwischen Sie sich selbst dabei, wie Sie Schülerinnen bevorzugen? Ich bin mir sogar sicher, dass viele LehrerInnen das gar nicht mitkriegen. Vielleicht hat das ja auch etwas damit zu tun, dass Frauen früher eher unterdrückt wurden, und dass die heutigen Bevorzugungen nachholende Toleranz sind. So als würde man in der U-bahn für eine/n Schwarzen aufstehen nur weil er/sie schwarz ist. Man will nett sein, aber eigentlich ist es fies.
Anais Temur, 14 Jahre, besucht die 9. Klasse eines Gymnasiums in Berlin.
DIE ANTWORT
Lehrer müssen lernen!
Lehrer neigen durchaus dazu, wen auch immer zu bevorzugen, zu benachteiligen oder einfach „anders“ zu behandeln. Denn Lehrer sind nun einmal Menschen. Menschen mit Vorlieben. Und mit Vorurteilen. Ein gängiges Vorurteil ist: Mädchen sind nicht gut in Naturwissenschaften. Deshalb ist die Freude groß, wenn das blonde, blauäugige Mädchen etwas Gescheites sagt, während der Junge in der ersten Reihe mehr leisten muss, um ähnliche Aufmerksamkeit zu erreichen.
Auch ich bin oft Opfer meiner Vorurteile geworden. Ich hatte mal einen „dunkelhäutigen“ Schüler. Als er sich zum ersten Mal meldete und etwas brillant Formuliertes sagte, war ich total erstaunt. Zum Glück habe ich ihn nicht für seine Deutschkenntnisse gelobt.
Auch Kevins oder Jasons haben es nicht leicht. Als Lehrer glaubt man die Eltern, die diese Namen gegeben haben, regelrecht zu sehen. Bei der ersten falschen Antwort denkt man dann: „Habe ich ja gleich gewusst!“ Ich werde mit Sicherheit auch nie meine erste „Kopftuchschülerin“ vergessen. Ich sah sie und dachte: „Das arme Mädchen muss ja ganz traurig sein.“ Schon bald stellte ich jedoch fest, dass dieses Mädchen eine ungewöhnlich schlagfertige und humorvolle Schülerin war. Habe ich als Mann jemals Schülerinnen bevorzugt, weil sie gut aussahen? Nicht bewusst. Aber es gab Schülerinnen und Schüler, zu denen ich fast freundschaftlichen Kontakt pflegte. Bei diesen Schülern habe ich mich im Zweifelsfall für die bessere Note, manchmal auch für eine zu gute Note entschieden.
Verbesserungsvorschläge? Mädchen sollten offensiv darauf aufmerksam machen, dass sie nicht nach Aussehen oder Geschlecht bewertet werden wollen. Es hilft, wenn Jungen und Mädchen gemeinsam zum Lehrer gehen, und ihm zum Beispiel nach der Vergabe der mündlichen Noten sagen: „Jason hätte eigentlich eine bessere Note verdient als ich!“
Dass es Lehrer gibt, die nie zugeben würden, sich „geirrt“ zu haben, sollte Schüler nicht daran hindern, sie auf einen Irrtum aufmerksam zu machen. Denn auch Lehrer können lernen. Sie brauchen nur manchmal etwas länger.
Arne Ulbricht, 41 Jahre, unterrichtet an einem Berufskolleg in Nordrhein-Westfalen Französisch und Geschichte.