: Hungern vor Obamas Haustür
USA Vor dem Weißen Haus campieren elf US-mexikanische Grenzgängerinnen im Hungerstreik. Sie wollen die verzweifelte Lage in der Grenzregion nicht mehr hinnehmen
LA MUJER OBRERA
AUS WASHINGTON DOROTHEA HAHN
Die Mauer? „Geldverschwendung“. Die Soldaten? „Die Mexikaner sind cleverer. Sie werden trotzdem kommen.“ Ana Arreola will die US-Politik an der langen Grenzlinie zu Mexiko in eine andere Richtung lenken. Deswegen ist die 52-Jährige zusammen mit zehn anderen Frauen in die Hauptstadt Washington gekommen. Seit Montag machen sie einen unbefristeten Hungerstreik. Am Haupteingang zum Weißen Haus verlangen sie Arbeitsplätze statt Militärs für ihre Region. Ihr Argument: „So entsteht echte Sicherheit.“
Die Hungerstreikenden stammen aus der texanischen Stadt El Paso. Wie die meisten Menschen aus ihrer Region sind sie Grenzgängerinnen. Sie sind in Mexiko geboren und in den USA aufgewachsen. Oder umgekehrt. Alle haben Familie auf beiden Seiten der Grenze. Und alle haben in der Textilindustrie gearbeitet. El Paso war jahrzehntelang die Welt-Hauptstadt der Jeans. Die Fabriken von Levis, Lee, Farrah und anderen großen Hosenfabrikanten beschäftigten bis zu 40.000 Menschen. Bis zu dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen, Nafta, das 1994 in Kraft getreten ist. Seither sind die Unternehmen weiter nach Süden gezogen. „In Mexiko und Salvador müssen sie 20-mal weniger Lohn zahlen“, erklärt Rosalia Hernandez. Sie hat zwei Jahrzehnte lang Jeans in El Paso produziert.
Die texanische Stadt El Paso liegt in Rufweite der mexikanischen Stadt Ciudad Juárez. Sie ist ein widersprüchlicher Ort: Mit ständig steigenden Einwohnerzahlen und mit Wachstumsbranchen wie der Rüstungsindustrie und der großen Militärbasis Fort Bliss, die übergangslos in die Stadt hineinragt. Zugleich beherbergt El Paso Elendsquartiere wie El Chamizal und Segundo Barrio, in denen die Arbeitslosigkeit weit über dem US-Durchschnitt und das Einkommen weit darunter liegt und wo viele Menschen in Trailern hausen.
Die hungerstreikenden Frauen haben mithilfe des Projekts „La Mujer obrera“ – die arbeitende Frau – aus ihrer Arbeitslosigkeit heraus- und zueinandergefunden. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt jetzt in den Werkstätten, in dem Kindergarten und in dem Markt „Mayapan“, den „La mujer obrera“ in El Paso eröffnet hat.
Öffentliche Mittel haben diese Einrichtungen gefördert. Doch die Zukunft ist ungewiss.
„Lieber Präsident Obama“, beginnt ein offener Brief von „La mujer obrera“. Darin verlangen die Unterzeichnerinnen zusätzliche Mittel für ihr eigenes Projekt – und weitere Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen längs der Grenze zu Mexiko. „Wir Frauen von der Grenze haben genug von der brutalen Tragödie in Ciudad Juarez und von der tiefen Armut in El Paso“, schreiben sie.
Die Hungerstreikenden wollen, dass eine Kommission zur Förderung ihrer Region gegründet wird. Diese Kommission soll mit öffentlichen Geldern soziale und Infrastrukturmaßnahmen längs der Grenze finanzieren. Die Frauen sehen ein Vorbild für ihre Kommission: die Appalachen, eine an der Ostküste der USA gelegene strukturell schwache Region. Seit einem halben Jahrhundert haben die Appalachen eine eigene Förderkommission und werden von Washington finanziell unterstützt.
Ana Arreola hat nicht die US-Staatsangehörigkeit, sondern nur eine Aufenthaltsgenehmigung. Aber sie hat vorerst keinerlei Absicht, nach Mexiko zurückzuziehen. „Ich habe vier schulpflichtige Kinder im Haus“, sagt sie, „so lange die ihre Ausbildung nicht fertig haben, werde ich bleiben. In Mexiko gibt es noch weniger Arbeit als hier.“
Die hungerstreikenden Frauen pendeln zwischen beiden Ländern. Fast alle haben Angehörige in Ciudad Juarez, die sie regelmäßig besuchen. Maria Mancinas geht jedes Wochenende über die Brücke auf die andere Seite der Grenze. Sie ist vor 58 Jahren in Texas zur Welt gekommen und hat die US-Staatsangehörigkeit. Auch ihre sechs Kinder sind in den USA geboren und aufgewachsen. Aber ihr Mann lebt in Ciudad Juarez. Er ist „deportiert“ worden, sagt sie, „weil er die Grenze illegal überquert hat“.
Die Frauen sind in einem Bus 2.000 Meilen von Texas nach Washington gereist. „Wir hungern, bis wir Antwort bekommen“, sagt Rosalia Hernandez, „dann fahren wir nach Hause.“