VERLORENE KNÖPFE UND ANDERE ABENTEUER IN BERLINS WILDEN NÄCHTEN : Mimikmikado – oder wer zuerst lächelt, hat verloren
ULLI HANNEMANN
Im Berliner Stadtmagazin Zitty stellt eine Porträtstrecke passionierte Clubgänger vor. Natürlich in Schwarz-Weiß, damit keiner merkt, wie beschissen langweilig sie in natura aussehen, nämlich, zieht man obendrein noch die versponnene, haha, Kulisse sowie die absurde Aufmachung in ulkigen Fledderjäckchen ab, wie du und ich und ganz normale Menschen. Die Clubgänger lächeln nicht, entweder um zu verbergen, dass sie es nicht können, oder siehe oben. Da haben sich die Posen seit 1980 offenbar um keinen Deut verändert. Damals waren sie nur ironischer. Neben den Fotos schwafeln die Nachteulen über sich und ihre Clubbesuche. Sie sind Stylistinnen, Barbesitzer oder Fotografen – ein ganz gewöhnlicher Querschnitt eben durch die Bevölkerung Prenzlhain-Kreuzdings. Vor zwei Uhr morgens braucht man in Berlin erst gar nicht loszugehen.
Wer hingegen nicht schwarzweiß und Gästeliste ist, gehört zum breiten Bodensatz der Nacht und lässt sich, obwohl die Lokale öffentlich sind und Eintritt kosten, wie ein Kriegsgefangener in der Kälte mit kilometerlangen Schlangen, gigantischen Wartezeiten und beliebigen Abweisungen demütigen. Als müsse ein Lemming eine Wartenummer ziehen, bevor er sich mit einer Handvoll gleichfalls privilegierter Mitnager ins raue Meer stürzen darf.
Jeder auch nur halbwegs vernünftig Denkende hätte unter solchen Voraussetzungen die Bude längst mitsamt dem anabolikagemästeten Orkwanst vor der Tür in das Faschonirwana gesprengt, um sich danach in eine gemütliche Bierkneipe mit schweren Holztischen zu begeben. Aber dass sich mit der Realität auf Kriegsfuß stehende Charaktere in ihrem Wahn noch elitär fühlen, kennt man ja auch von Irren, die sich für Napoleon halten.
Doch immerhin erleben die wenigen, die irgendwann eingelassen werden, die wahnwitzigsten Abenteuer im Club ihres Vertrauens. So berichtet Carmen M. im selben Heft (23/10; S. 21): „Nur einmal hatte ich ein schlimmes Erlebnis. Das war im Cookies, da habe ich gedacht, ich hätte meine Tasche mit Handy, Ausweis und Geld verloren. Ich konnte mich einfach nicht erinnern, wo ich sie abgestellt hatte. Zum Glück hab ich sie wiedergefunden …“
Erlebnisse wie dieses lassen sich in ihrer erlesenen Singularität im Grunde nur in Berlin erleben und nirgendwo sonst. So verspricht auch der Kulturteil des Lonely Planet unter der Überschrift „Sachen suchen im Darkroom“: „Mit hippen jungen Menschen aus der ganzen Welt die Handtasche verlieren und wiederfinden, während über dem River Spree die Sonne aufgeht, um einen neuen Tag einzuläuten in der aufregendsten jungen Feiermetropole Berlin, und das Handy ist auch noch da?“ Kein Wunder, dass, angelockt von solch bizarren Ausgeh-Anekdoten, Tag für Tag Milliarden junger Touristen in die Stadt strömen, um zusammen mit mental limitierten Einheimischen vergebens um Einlass in eine unwirtliche Baracke zu betteln.
Wie groß ist anschließend der Jubel, schaffen sie es am Ende wider Erwarten doch ins Allerheiligste. Dort warten ästhetische und hygienische Megaflashs auf sie, wie der gemeinsame Drogenkonsum auf Toiletten, deren Zustand spätestens ab vier Uhr morgens an Feldlatrinen aus dem Dreißigjährigen Krieg erinnert. Zum überteuerten Bierersatz hottet jeder für sich selber ab oder spielt Mimikmikado: Wer zuerst lächelt, hat verloren. Natürlich sind die Gästebücher der entsprechenden Insider-Pages voll mit überschwänglichen Kommentaren. So ist Sandy, 23, Barstylistin aus Sidney, im „Begräbnisclub“ unter der Tiefgarage Marienfelder Allee 234 ein Knopf ihrer Hamsterfelljacke halb abgerissen, und Raul, 27, einem Schwarzweißfotografen aus Barcelona, wäre vor Aldi in der Sonnenallee ein litauischer Austauschkunststudent um ein Haar auf den Schlips getreten. Nicht nur diesen beiden wird die Berliner Clublandschaft derart unvergesslich bleiben, dass sie ihren Eltern noch auf dem Sterbebett davon erzählen werden. Hauptsache, sie lächeln nicht dabei.