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Archiv-Artikel

Gewaltlos die Kurve kriegen

Das Kick-Projekt von Polizei und Sportjugend arbeitet seit 1991 mit gewalttätigen und gewaltbereiten Jugendlichen. Obwohl Geld und Mitarbeiter knapp sind, ist das Präventionskonzept aus Sport- und Freizeitangeboten erstaunlich erfolgreich. Schwierig wird es oft bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt

Politiker schwärmen von Projekten wie Kick – aber beim Geld rudern sie zurück

VON LARS JESCHONNEK

Lang schlafen, aufstehen, Freunde treffen, rumsitzen, unterhalten. So geht das immerzu, jeden Tag. Nedeslav Nedev ist 18 Jahre alt. In der neunten Klasse flog er von der Hauptschule. Er hatte einfach zu oft gefehlt. Jetzt ist er arbeitslos. Wie sein Vater. Wie seine Mutter. Nedeslav wohnt in Marzahn. Graue Betonklötze reihen sich aneinander, fast alle Supermärkte sind Discounter.

Es ist 13 Uhr, als Dietmar Lorenz die Haustür in der Fichtelbergstraße aufschließt. Das einstöckige Gebäude ist einer der zehn Standorte von Kick, einem von der Sportjugend Berlin getragenen Projekt. Partner ist die Berliner Polizei.

Seit nunmehr 15 Jahren sollen delinquente oder delinquenzgefährdete Jugendliche über den Sport und sozialpädagogische Arbeit wieder auf die richtige Bahn gebracht werden. Nedeslav ist wie immer einer der Ersten. Der Junge mit den kurzgeschorenen Haaren und dem Flaumbärtchen kommt wegen des Kraftraums zu Kick. In einem Bezirk wie Marzahn sind Muskeln wichtig. Sie verschaffen Respekt. Heute aber greift Nedeslav statt zu den Hanteln zur Malerrolle. Es wird renoviert.

Nach einer Weile ist Nedeslavs bloßer Oberkörper mit Farbklecksen gesprenkelt. Aus dem Ghettoblaster in einer Ecke des zur Hälfte verspiegelten Raums dröhnt deutscher Hiphop. Azad sprechsingt über das Leben im Ghetto, über Armut und Gewalt. Nedeslav sagt, Rapper wie Azad oder Kool Savas wüssten, wie „es“ wirklich ist, sie würden nicht einfach „was erzählen“.

Nedeslav spricht akzentfreies Berlin-Deutsch. Er ist vor sieben Jahren nach Marzahn gekommen – aus Russe, einer bulgarischen Donaustadt. Die Nachmittage bei Kick sind inzwischen fester Bestandteil seines Alltags. Sie durchbrechen den Trott. Und Nedeslav darf umsonst trainieren. Für einen Sportverein fehlt der Familie das Geld.

„Ich habe ein perfektes Verhältnis zu meinen Eltern und meinen Geschwistern“, betont der Teenager. Erst im Sommer hat er es auf eine harte Probe gestellt. Nedeslav war mit Freunden in einer Disko feiern, sie tranken zu viel. Beim Rausgehen pöbelten andere Jugendliche. Nedeslav hasst es, wenn man ihn beleidigt. Er sah rot. Das Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung läuft. „Ich bereue, was ich getan habe“, sagt Nedeslav und sucht Augenkontakt mit Dietmar Lorenz. Der Erzieher nickt bedächtig.

„Wir müssen die Kinder im Grunde noch viel früher kriegen“, sagt Thomas Martens, der Projektleiter von der Berliner Sportjugend. Heute begegne ihnen die Gewalt schon in der Grundschule. „Dort werden wir künftig verstärkt ansetzen.“ Kick bietet zusammen mit der Polizei Anti-Aggressions-Training und Präventionswochen an.

Neben den zehn festen Standorten an sozialen Brennpunkten wie dem in Marzahn wird die mobile Arbeit bei Kick immer wichtiger. Als Achim Lazai, ein Kreuzberger Kriminalhauptkommissar, das Projekt 1991 ins Leben rief, war das noch anders. Lazais ursprüngliches Konzept sah vor, dass vor allem jene Jugendlichen zu Kick kommen, die polizeiauffällig geworden sind. „Das haben wir inzwischen ausgeweitet. Wir wollen die Kinder erreichen, bevor sie mit dem Gesetz in Konflikt kommen“, erklärt Lazais Sohn Eckhardt vom Verhaltenstraining der Polizei, der den Posten seines Vaters als Polizeikoordinator für Kick übernommen hat.

Das Kick-Angebot umfasst heute neben der klassischen Standortarbeit auch Erlebnispädagogik, etwa im Hochseilgarten, Ferienfreizeiten und Arbeit an Schulen. Das mit EU-Mitteln finanzierte „L.e.h.g.O.“-Projekt hat zum Ziel, dass die Schüler „Lebensführung lernen, handlungs- und geschäftsfähig werden, Optionen entwickeln“. Dazu arbeiten die Kick-Pädagogen über einen Zeitraum von zwei Jahren wöchentlich mit Siebtklässlern in mehreren Hauptschulen rund um das Ostkreuz. Sie bereiten die Jugendlichen auf die Arbeitswelt vor, auf Behördengänge und mögliche Schuldenfallen. Die Teenager sollen außerdem lernen, ihre Wut mit Worten auszudrücken.

Das Problem: Die Förderung läuft Ende April 2007 aus, Zukunft ungewiss. Gleiches gilt für den Standort Marzahn. Kick steuert jährlich rund 100.000 Euro bei. Das Bezirksamt zahlt Wasser, Heizung, Instandhaltung. Etwa 3.500 Euro im Jahr. Ende September erhielt Kick-Projektleiter Martens die Kündigung zum 31. 12. 2006. Das Bezirksamt könne den Betrag nicht mehr aufbringen, Kick solle das Gebäude übernehmen. „Damit würden wir auch alle Risiken tragen. Das ist für uns nicht möglich“, sagt Thomas Martens.

Es ärgert den Pädagogen, dass Bezirkspolitiker sich schwärmerisch über Projekte wie Kick äußern, bei der Finanzierung aber zurückrudern. „Das Verfassungsgerichtsurteil, das Berlin mit seinen Schulden allein lässt, wird die Lage wohl noch verschärfen“, fürchtet auch Eckhardt Lazai.

Natürlich würden sich die Macher bei Kick mehr Geld wünschen als die 504.000 Euro, die ihnen im Jahr zur Verfügung stehen. „Wir arbeiten mit unseren 19 Mitarbeitern hart an der Grenze, aber auch so können wir etwas bewegen“, findet Martens. Er schätzt, dass 80 Prozent der Jugendlichen die Kurve kriegen.

Sarah L. kocht Tee. Sie hilft gerne in der Küche. Bevor sie vor zwei Jahren zum ersten Mal in die Fichtelbergstraße kam, hatte sie kein Selbstvertrauen mehr. Jahrelang war sie gemobbt worden, in der Grundschule, auf der Straße. Die anderen fanden sie zu klein, zu dünn, zu schwach. „Ich bin dann immer schnell total aggressiv geworden, ich konnte mit Kritik überhaupt nicht umgehen“, erinnert sich die 15-Jährige. Mittlerweile bleibe sie viel gelassener, gerade in Konfliktsituationen. „Ich bin viel selbstsicherer und habe keine Scheu mehr, auf Menschen zuzugehen, sie anzusprechen.“ Im neuen Schuljahr wurden ihre Noten plötzlich richtig gut. Sie geht auf die Tagore-Oberschule. „Ein Gymnasium“, wie sie betont. Sie sei endlich glücklich, sagt die Kick-Musterschülerin.

Nachmittags geht Sarah gerne ins „East Gate“, das große Marzahner Einkaufszentrum. Zum Schaufenstershoppen. „Echte“ Einkäufe sind nicht drin bei 10 Euro Taschengeld im Monat. „Mir fehlt es an nichts. Alles, was ich wirklich brauche, kriege ich von meiner Mutter“, sagt sie.

Sarah hat Glück. Viele Kinder und Jugendliche seien völlig ausgehungert, wenn sie nach der Schule zu Kick kommen, berichtet Dietmar Lorenz. Für viele Jungen im Haus ist er eine Art Ersatzvater. Und ein Vorbild. Der Sporterzieher holte 1980 in Moskau olympisches Gold beim Judo. „Wenn ich die Medaille mitbringe, wollen alle sie mal umhängen“, erzählt der 1,90-Meter-Mann. Über den Sport finde man am schnellsten Zugang zu den Jugendlichen. Die Kick-Pädagogen mischen aktiv mit, wenn Fußball, Tischtennis oder Eishockey gespielt wird. „Das schafft Situationen, in denen man viel schneller ins Gespräch kommt.“

Trotz allem Engagement können die Mitarbeiter den Jugendlichen oft nicht helfen. „Im Grunde ist ein Hauptschüler heute auf dem Arbeitsmarkt chancenlos“, klagt Projektleiter Martens. Oft lägen aber auch bei den Jugendlichen Anspruch und Wirklichkeit zu weit auseinander.

Nedeslav will Elektrotechniker werden. Nach seinem Schulverweis versuchte er, außerbetrieblich in der Berufsschule den Hauptschulabschluss in der Fachrichtung Bürokaufmann nachzuholen. „Das war aber zu schwer“, sagt der 18-Jährige. Er will es nochmal in Elektrotechnik versuchen. In diesem Jahr hat er die Anmeldung verpasst.

Er hat die Malerrolle beiseitegelegt und verabschiedet sich. Es ist Freitagabend. Er ist mit Freunden verabredet. Sie treffen sich auf dem Kienberg, einem bepflanzten Trümmerhügel. Dort könne man in Ruhe trinken, auch mal lauter sein. Nedeslav sagt, er werde sich demnächst um die Sache mit dem Schulabschluss kümmern. Bestimmt.

Weitere Informationen über das KICK-Projekt auf: www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/kick/index.html