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Archiv-Artikel

Requiem auf den Straßenrand

WERBUNG „Roadside America“ heißt die Hommage des Fotografen John Margolies an die einzigartige US-Straßenkultur. Der Fotoband ist ein Nachruf auf eine überlebte Epoche

Vor einem Laden in Texas signalisiert es ein gesatteltes Riesenkaninchen. In Kentucky trötet es eine fünf Meter hohe hölzerne Gans mit Augen aus Autoscheinwerfern vom Dach: anhalten, bleiben und ab zur Kasse

AUS WASHINGTON ANTJE PASSENHEIM

Es war einmal in Amerika – da sprachen Straßen noch Bände. Schrille Leuchtschrift, poppige Schilder und Fantasiebauten buhlten um die Gunst vorbeirauschender Autofahrer. Sie schrien förmlich um die Wette, um Easy Rider auszubremsen. John Margolies’ Eltern hielten nie an. Der kleine Junge aus Connecticut blickte fasziniert aus dem Autofenster und konnte es nicht abwarten, all die Straßen auf eigene Faust zu entdecken. Als er alt genug war, begann er damit, den Straßenrand mit seiner Kamera festzuhalten.

„Alles verschwunden“, sinniert Margolies. „Ausgelöscht. Es gibt sie nicht mehr.“ Sie, das ist die Kunst am Straßenrand, der Margolies auf der Spur war. Es sind schrille Werbeschilder oder Neonschriftzüge, die Reisende in Motels, Läden oder Diners locken sollen. Es sind haushohe Skulpturen, die aus Maisfeldern oder der Prärie ragen. Zusammengeflickte, bepinselte Bruchbuden oder fantasievolle Architektenkunst. „Als ich sie fotografierte, konnte ich nicht ahnen, dass all meine Motive bereits im Sterben begriffen waren“, meint der heute 70-jährige New Yorker. „Relikte einer ausklingenden Epoche.“

Diese Epoche beginnt in den 1920er Jahren mit einem Liebesverhältnis – nämlich dem der Amerikaner zu ihren Autos. Henry Ford setzt die Welle in Bewegung. Wer kann, ist on the Road, um die grenzenlose Weite jenseits von Zugfahrplänen und Busrouten zu entdecken. Die Straße wird zum Ort der Isolation. Noch vor John Steinbeck oder Jack Kerouac finden die ersten Desperados auf endlosen, schnurgeraden Betonpisten zu sich selbst. Freiheit, Grenzenlosigkeit und Unternehmergeist prägen die amerikanische Lebensart.

Eisberg in Kansas

Die einen reisen – die anderen werben um sie. „Es ist das System der freien Unternehmer. Es ist Kapitalismus. Die Leute können ihre eigenen Geschäfte aufziehen, Geld machen, Kunden anlocken“, erklärt Margolies. Und dabei sind ihrer Kreativität keine Grenzen gesetzt: Schilder werden selbst gemalt oder aus Schrott gebastelt, Scheunen und Bretterbuden werden zu Werbeflächen. Alle senden dasselbe Signal: anhalten, bleiben und ab zur Kasse.

Vor einem Laden in Texas signalisiert es ein gesatteltes Riesenkaninchen. In Kentucky trötet es eine fünf Meter hohe hölzerne Gans mit Augen aus Autoscheinwerfern vom Dach. Der Mother Gooze Market in Hazard hat es Margolies besonders angetan. An das ovale Gebäude mit den eierförmigen Fenstern erinnert er sich genauso gern wie an die hölzerne Squaw Pocahontas, die ihm aus einem Maisfeld in Iowa zulächelte. Das Matterhorn in der Prärie, die Eisberg-Tankstelle in Kansas – das sind Stationen auf Margolies’ über 100.000 Meilen langen Fotoreise.

32 Jahre kreuzte er quer durch alle US-Staaten. „Ich stand im Morgengrauen auf, um das frühe Sonnenlicht und den blauen Himmel mit meiner Kamera einzufangen.“ Autos oder Menschen haben auf diesen Fotos nichts verloren. Seine Motive sucht Margolies nicht. Sie finden ihn. „Sie mussten mir nur ins Gesicht springen und mich dazu bringen, das Auto anzuhalten – was ich gerne tat.“

Rund 13.000 Fotos bringt Margolies von diesen Reisen mit. Einen Bruchteil, rund 400, hat er für sein Buch daraus ausgewählt. Es sind schwindende Symbole einer mobilen Nation. So mobil, dass sie sich selbst überrollt hat. „Das Problem für die Roadside-Kunst, die ich fotografiert habe, ist, dass sie von den Autobahnen überholt worden ist.“ Die Highway-Bauwut von Präsident Dwight D. Eisenhower und später ein Gesetz, das der Spontaneität am Straßenrand den Garaus macht, sind der Anfang vom Ende der Kleinunternehmen der amerikanischen Landstraße. An den sogenannten „Mom and Pop“-Geschäften kommt plötzlich kein Auto mehr vorbei. „Doch das brauchten sie zum Überleben“, sagt Margolies.

Platz für Starbucks

„Die amerikanische Straßenkultur ist verschluckt worden – von Gleichklang und Eintönigkeit.“ Kettenunternehmen beherrschen das Bild. Die Kreativität am Straßenrand kapituliert. Ein Familienbetrieb nach dem nächsten macht Platz für Starbucks, Home Depot und immer gleiche Motel- und Restaurantketten. Ihre Schilder erkennt jeder im Schlaf. Ihre Flachdachgebäude geben jedem das Gefühl, überall zu Hause zu sein. „Der Ausdruck der USA ist überall der gleiche geworden. Rund um Denver sieht es genauso aus wie rund um Mississippi oder New York“, ärgert sich der Fotograf.

In seiner Wohnung in Manhattan hat er der Roadside-Kunst ein Denkmal gesetzt. Wände und Regale sprechen von einer Ära, in der der amerikanische Traum noch lebte. Streichholzbriefe aus längst geschlossenen Fastfood-Restaurants, Blechteile alter Straßenkreuzer, Coca-Cola-Schilder – und Fotos, Fotos, Fotos. Margolies wird alles der Kongressbibliothek in Washington vermachen. Doch vorerst lässt er sich selber gerne noch davon einfangen. „Es sind autobiografische Bilder. An jedem einzelnen Ort bin ich gewesen. Sie spulen einen Film in mir ab.“ Margolies’ Road Movie hat kein Happy End. Doch in seinen Fotos hat er ihn zumindest für die Nachwelt konserviert.

John Margolies: „Roadside America. Architektonische Relikte einer vergangenen Epoche“. Taschen, Köln 2010, 256 S., 29,99 Euro