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Archiv-Artikel

Buhrufe für Russland

ESC Unmutsbekundungen des Publikums beim Kopenhagener Eurovisionsfest

AUS KOPENHAGEN JAN FEDDERSEN

Dass der Eurovision Song Contest schon immer auch ein Barometer für politische Wetterlagen in Europa war, kommt zu sagen einer Binse gleich. Griechenland und die Türkei lernten beim ESC in den Siebzigern, friedlich miteinander umzugehen, und sei es bei einem Popfestival. Die Bundesrepublik kam erst auf bessere Plätze, nachdem in den von der Wehrmacht überfallenen Ländern auch der letzte Kriegsschutt abgetragen war, das war 1970, als Katja Ebstein das sprichwörtliche „Wunder gibt es immer wieder“ gab. Aber so symbolbeladen solch eine 120-Millionen-Zuschauer-Show auch sein mag – offenes Missfallen gegen ein Land und dessen Lied hatte es bis Dienstagabend nicht gegeben.

Nicht nur, dass eine hörbare Menge an Publikum unter den 12.000 Zuschauern in der Kopenhagener B&W-Halle buhte, nachdem die russischen Tolmatschewa-Zwillinge ihr Lied „Shine“ dargeboten hatten. Einem – über die TV-Leitung hörbaren – Eklat kam es gleich, als der Moderator Nikolaj Koppel nach der ersten Qualifikationsrunde für das Finale am Samstag die Namen der Länder vorlas, die nicht nach Hause fahren müssen: Als er „Russia“ aussprach, hob noch schärferes Buhen in der Halle an.

Die Ukraine und seine Chanteuse Marija Jaremtschuk hingegen erntete überdurchschnittlichen Beifall, als sie performte. Deutlicher noch fiel dieser Applaus aus, als die Ukraine für das Finale ausgelobt wurde.

Die ganze Eurovisionswoche – mit Proben, Presseterminen, Empfängen über – lag die Differenz in der Luft: Hier die ukrainische Delegation und ihre (noch bis Januar zur Janukowitsch-Entourage zählende) Interpretin, der viel „Good Luck!“ gewünscht wurde, dort das russische Team, das zwar auf dem Bürgermeisterabend vorigen Sonntag nicht geschnitten wurde, aber selbst auch keinen sichtbaren Wert auf ein europäisches Get Together zu legen schien.

Es war die erste deutliche Antipathiebekundung eines ESC-Publikums vor aller Öffentlichkeit. Bislang gab es nur einen Vorfall, der im Applaus auf etwas Politisches verwies: Das war 1993, als das junge Land Bosnien und Herzegowina erstmals teilnahm. Als in Millstreet, Irland, aus Sarajevo die Wertung durchgegeben wurde, knackte es im (noch analog vernetzten) Telefon so knarzig durch die Leitung, dass die Saalzuschauer dachten, es hörte live kriegerischen Lärm – und applaudierte sich solidarischst mit der von serbischen Militärs belagerten Stadt.

Reaktionen aus Moskau auf den Vorfall am Dienstagabend sind nicht überliefert. Russische Journalisten in Kopenhagen glauben, dass der ESC-übertragende Sender die entsprechende Stelle herausgeschnitten hat. Die Tolmatschewa-Zwillinge gingen gestern Abend nicht auf Journalistenfragen ein, ob sie das Buhen gehört haben. Am Samstag treten Russland, die Ukraine, Armenien und Aserbaidschan nun auf jeden Fall im Finale noch einmal miteinander auf. Ob sie sich gegenseitig Punkte geben, wird erst dann sichtbar werden.

Erwartet wird, dass die verfeindeten Länder Armenien und Aserbaidschan sich ignorieren. Die Bewohner der Krim werden nach einer Mitteilung der Eurovision aus technischen Gründen noch zum ukrainischen Televotingaufkommen gerechnet.