: Verwirrt in Freiburg
Was ist wichtiger: 8.900 Wohnungen im Besitz der Stadt oder Geld für Schulen? Ein Dilemma. Am Sonntag sollen die Bürger darüber entscheiden, werden aber gezielt verwirrt, nicht aufgeklärt
von GESINE KULCKE
„Sie können gleich hier wählen“, sagte der Wahlhelfer im Bürgeramt, die Ruhe selbst, aber die Haare auf meinem Rücken stellten sich trotzdem auf wie dicke Borsten, was auch dem Herrn Wahlhelfer hätten auffallen müssen. Doch der reichte mir ganz ungerührt den Wahlzettel und die Briefumschläge, zeigte auf die drei zusammengeschraubten, grauen Pressspanwände und sagte: „Da ist die Wahlkabine. Den Wahlschein in den kleinen Briefumschlag, die Erklärung, dass Sie Ihre Stimme selbst abgegeben haben, mit dem Briefumschlag, in dem der Wahlschein steckt, in den großen Briefumschlag und alles zusammen in die Urne.“
Ich verstecke mein rotes Gesicht hinter den grauen Pressspanwänden. Was war noch einmal die Frage? Ich weiß, dass es um Wohnungen geht, viele Wohnungen. 8.900. Sie gehören der Stadtbau GmbH, deren Eigentümer wiederum die Stadt Freiburg ist. Die Wohnungen sollen verkauft werden. Von einem grünen Oberbürgermeister! Nein, denke ich und will schon ankreuzen, da fällt mir ein, dass es gestern in der Kneipe hieß, so einfach sei das nicht. Wenn ich in diesem Fall Nein meine, müsse ich auf jeden Fall Ja ankreuzen.
Auf den Plakaten wollen alle das Gleiche: Lachende Menschen, vor allem Kinder, die ganz viel lernen und Fußball spielen. Erreicht werden soll dieser Zustand in leichten Variationen, über die jetzt die Bürger abstimmen dürfen. Die Grünen wollen für mehr soziale Gerechtigkeit die Stadtbau Freiburg verkaufen und das dadurch verdiente Geld anschließend in Schulen und Kindertagesstätten stecken.
So sieht’s aus auf dem Plakat. Bleibt nur die Frage, was in vier, lass es zehn Jahre sein, verkauft werden soll. Schließlich verbraucht sich Geld ziemlich schnell, wenn man es in Schulen und Kindertagesstätten steckt, die so nett aussehen, wie die auf den grünen Plakaten. Sobald die Wohnungen verkauft sind, wollen auch die Freien Wähler vorübergehend Verantwortung für Jung und Alt übernehmen. Die CDU wird ebenfalls Schulen retten und in den Fußballnachwuchs investieren. Jetzt, wo Volker Finke bei „Sport im Dritten“ wieder gefeiert wird, muss man da natürlich mitmachen. Für Freiburg, für Baden-Württemberg, für Jogi Löw und die WM 2010: Ja zum Verkauf.
Nein zum Verkauf, also Ja auf dem Wahlschein, sagt auch das Mietshäuser Syndikat Freiburg, obwohl es eigentlich gern Ja zum Verkauf, also Nein auf dem Wahlschein sagen würde.
Das Mietshäuser Syndikat plant die Gründung einer „Wohnraum für alle GmbH“, mit genossenschaftlicher Kapitalbeteiligung der Mieter, Bürger und anderen gesellschaftlichen Gruppen, um zu verhindern, dass Finanzinvestoren wie Fortress mit den Wohnungen an der Börse rumspekulieren.
Die SPD meint: Viele lachende Menschen wird es geben, wenn die Stadt die Wohnungen behält, und die Mieter, die jetzt Mieter sind, Mieter bleiben können. Die SPD will also Nein zu den Verkaufsplänen der Stadt sagen und muss deshalb die Frage auf dem Wahlschein, die mir einfach nicht einfallen will, mit Ja beantworten.
Meine Deutsch- und Geschichtslehrer schrieben unter meine Aufsätze immer wieder „Thema verfehlt“. Warum ich so oft das Thema verfehlt habe, war mir viele Jahre ein großes Rätsel. Aber hinter dieser Pressspanwahlkabine im Bürgeramt Freiburg habe ich es gelöst: Der Mensch fragt nicht, weil er von einem anderen etwas wissen, sondern weil er von einem anderen bestätigt werden will. Da nun aber die Freiburger Bürger, wenn sie ehrlich sind, den Gemeinderat nicht bestätigen können, musste die Frage für den Bürgerentscheid so formuliert werden, dass die Bürger zwar Nein ankreuzen, damit aber Ja sagen. Ja also Nein ist und Nein Ja.
Wie so eine Frage lauten muss? Sie könnte so lauten, wie die, die ich zum Glück auf dem Wahlzettel entdeckt und noch einmal genau durchgelesen habe, bevor ich mein Kreuzchen gemacht habe: „Sind Sie dafür, dass die Stadt Freiburg Eigentümerin der Stadtbau GmbH und der städtischen Wohnungen bleibt?“