: Stationen eines Wunderkinds
MUSICA POPULAR BRASILEIRA In Brasilien ist Maria Gadú ein Superstar, Caetano Veloso ist ihr größter Fan. Mit einiger Verspätung kann man sie jetzt auch in Deutschland entdecken
VON STEFAN FRANZEN
Die Begegnung mit dem Star aus Rio überrascht: Die zierliche Frau mit der Kurzhaarfrisur wirkt nicht so distanziert und unnahbar, wie man es von ihren oft melancholischen und verträumten Songs her erwarten könnte, sondern so übermütig, als würde ihr die Welt gehören. Hinter der Sonnenbrille wandern ihre Augen neugierig und rastlos umher, und ihre raue, fordernde Stimme lässt die honiggleiche Weichheit nur ahnen, die Maria Gadú beim Singen so effektvoll entwickelt. „Mein Elternhaus war voller kreativer Freiheiten. Ich durfte die Wände anmalen, neue Wörter erfinden“, sprudelt es aus ihr nur so heraus. „Von meiner Oma und meiner Mutter bekam ich viel Musik vermittelt. All das hat mich sehr früh stimuliert.“
Stationen eines Wunderkinds: Schon mit 10 schreibt Maria Gadú den lautmalerischen Song „Shimbalaiê“, der davon handelt, wie die Sonne das Meer küsst. Er soll später ihr größter Hit werden, doch der Weg dorthin war nicht leicht. Als Teenager steht sie in den Clubs von São Paulo auf der Bühne, mit 19 geht sie mit einem Freund, dem Perkussionisten Doga, nach Europa und macht dort Straßenmusik. „Ich habe diese Reise gemacht, um mich von einer schweren Depression zu heilen. Es war eine richtige Auferstehung“, sagt sie.
Als sie mit 21 Jahren nach Brasilien zurückkehrt, 2008, geht alles plötzlich ganz schnell. Ihre Version von Jacques Brels „Ne Me Quitte Pas“ bringt ihr TV-Auftritte und einen Plattenvertrag ein. Als der große Caetano Veloso sie zum ersten Mal hört, schwärmt er augenzwinkernd von dem „Jungen mit der Stimme einer Prinzessin“. So angetan ist er von ihr, dass er mit ihr auf Tour geht. Hier der damals 69-jährige Veteran, da die 24-jährige Senkrechtstarterin: Das Live-Doppelalbum der beiden ist ein ergreifendes Dokument zweier Künstler, die sich über alle Altersgrenzen hinweg blind verstehen. Veloso könnte ihr Großvater sein, doch Gadú schwärmt von ihm: „Er ist das Umfassendste, das in der brasilianischen Gesellschaft existiert, ein Mensch von geradezu absurden Eigenheiten.“
Zu ihrer Homosexualität steht Gadú ganz offen, möchte sich darauf aber nicht festlegen lassen. „Songwriterinnen können in besonderem Maße ihre eigenen Gefühle ausdrücken, sie sind immer starke Persönlichkeiten“, findet sie. „Dass sie ihre Sexualität in einer breiteren Ausprägung leben, hängt damit zusammen, dass sie keine Angst vor ihr haben“, kommentiert sie knapp.
Wenn man sie nach weiblichen Vorbildern fragt, lobt sie die Leichtigkeit ihrer Landsfrau Marisa Monte, aber auch die Ausdruckskraft einer Rocksängerin wie Alanis Morisette: „Wie sie diesen Wechsel zwischen Brust und Falsett schafft, das wollte ich auch beherrschen“, gesteht sie.
Wer ihre Lieder hört, der spürt immer auch Fragilität und Verletzlichkeit. Das ehrfürchtige Staunen über die Schönheit der Welt, die Melancholie unerfüllter Liebe, solche Themen findet man in ihren Texten häufiger. Clever pflegt sie dabei eine organische Verschmelzung der Stile: Immer wieder paart sie die Rhythmen aus dem Nordosten wie Maracatú oder Baião mit Ohrwurmmelodien, lässt Funk mit afrobrasilianischen Klängen kollidieren, singt mit authentisch portugiesischer Schwermut einen Fado, greift Chansons auf.
Auf ihrem Album „Mais Uma Página“, das mit dreijähriger Verspätung jetzt auch in Deutschland erschienen ist, finden sich auch zwei englischsprachige Songs. Den „Axé Acappella“, ein bissiger Samba-Reggae mit brisantem Text, hat ihr der brasilianische Songwriter-Kollege Dani Black geschenkt. Er klingt wie ein Kommentar zu den Sozialprotesten des letzten Jahres. „Es ist der verzweifelte Schrei der Leute, die auf die Straße gehen, um gegen Ungleichheit zu protestieren. Doch darunter liegt ein Partyrhythmus“, erläutert Gadú. „Das ist das Fatale an der brasilianischen Gesellschaft: Die Leute sind geschockt und wollen sich wehren. Zugleich wollen sie aber immer auch feiern. Keine gute Balance. Denn so kommen wir einfach nicht weiter mit der Lösung der sozialen Probleme.“
Wie sich dieser Widerspruch während der Fußball-WM äußern wird, will Maria Gadú nicht vor Ort erleben. Sie flieht ganz bewusst vor dem Trubel – und will den späten deutschen Release ihres Debüts von 2009 und des Nachfolgers, „Mais Uma Página“, von 2012 mit ein paar Bühnenshows in Europa begehen.
■ Maria Gadú: „Maria Gadú“, „Mais Uma Página“ (Universal)