: Das Gift kommt mit dem Wasser
AUS BRILON MIRIAM BUNJES
Den schmalen Pfad zwischen den Tannen ist Reinhard Knaden sein Leben lang gerne gegangen. Dunkel ist es hier und still, bis auf das Plätschern der Steinbecke, die durch den Briloner Wald ins Tal zur Möhne fließt. „Das ist der wichtigste Platz in meinem Leben“, sagt der 75-Jährige. Eine Holzbrücke führt über den schmalen Bach, der Pfad endet vor einer moosbewachsenen Felswand, über die sich von oben Laubbäume neigen. Die Jagdhütte aus Holz hat Knadens Vater gebaut. Die drei Fischteiche vor dem steilen Fels hat der ehemalige Finanzbeamte vor 40 Jahren selbst angelegt. 500 Forellen leben hier. Dringt ein Sonnenstrahl durchs Blätterdach, springen sie kurz in die Luft, um dann ins heute regentrübe Wasser einzutauchen. „Sie sind lebender Sondermüll“, sagt Knaden. Seit er das weiß, kommt er nicht mehr jeden Tag an den wichtigsten Platz in seinem Leben.
In seinen Forellen haben die Umweltbehörden des Hochsauerlandkreises 1,18 Nanogramm der Industriechemikalie PFT (perfluorierte Tenside) pro Gramm Körpergewicht gemessen, im Bachwasser vor seiner Holzmühle fast 80.000 Nanogramm PFT pro Liter Wasser. Das ist die weltweit höchste jemals in der Umwelt gemessene Konzentration der Chemikalie, hat Knaden mit Briloner Lokalpolitikern im Internet recherchiert. Und auch das Bundesinstitut für Risikoforschung reagiert schockiert auf die Briloner Chemieforellen. Dessen Grenzwert überschreiten die Tiere ums 60fache. Vom Verzehr rät das Institut ab. Die Auswirkungen von PFT auf den Menschen sind nicht erforscht, bei Ratten indes verursacht die Chemikalie Krebs und Leberschäden. Für Menschen steht fest: PFT ist nicht abbaubar, einmal gegessen oder getrunken, lagert es für den Rest des Lebens in den Körperzellen.
Die Steinbecke hat Reinhard Knaden das Gift gebracht. Wahrscheinlich schon seit vielen Jahren, mit Sicherheit seit 2004. Auch oben in Brilon-Scharfenberg plätschert der Bach kristallklar, windet sich zwischen Bäumen und Feldern hinunter zu Reinhard Knadens Teichen. Der Mais auf dem größten Feld wurde in diesem Jahr nicht geerntet, jetzt im November ist er vertrocknetes braunes Gestrüpp. „Vor kurzem sah er knackig aus“, sagt Reinhard Loos, Briloner Lokalpolitiker und für die Sauerländer Bürgerliste im Kreistag des Hochsauerlandkreises. „Unser Giftmülldepot ist unsichtbar.“
Unter dem vertrockneten Mais und dem angrenzenden Feld mit Weihnachtsbäumen liegen ungefähr 400 Kilogramm PFT. Mehrmals im Jahr hat der Pächter, ein Großbauer, der im Sauerland Weihnachtsbäume züchtet, die Felder mit so genanntem Bodenbeschleuniger gedüngt. Ein Bestandteil des als Biodünger vermarkteten Gemischs namens „Terrafarm“ ist die Industriechemikalie PFT, die vor allem in der Textil- und Papierindustrie verwendet wird, um Materialien wasserabweisend zu machen.
Terrafarm wird von der Borchener Firma GW Umwelt vertrieben. Schon der ausgewiesene Inhalt hört sich ungesund an. Es handelt sich um ein Gemisch aus Abwasserschlämmen der Nahrungsmittelindustrie und Gesteinsmehl. „Das wäre noch legal“, sagt Horst Rürup, ermittelnder Staatsanwalt aus Paderborn. „Aber hier wurde illegal PFT hineingemischt und so entsorgt.“
Mehr als 1.000 Felder in NRW wurden mit Terrafarm gedüngt, vor allem im Hochsauerlandkreis und im Nachbarkreis Soest. Auch in Hessen und Niedersachsen werden jetzt hektisch Bodenproben genommen. Nicht jedes Feld ist verseucht. „Offenbar waren nicht alle Lieferungen PFT-haltig“, sagt Rürup. Er kennt bislang zwölf Felder in NRW, auf denen PFT lagert. Möglicherweise seit vielen Jahren sickert die Chemikalie dort durch den Boden ins Grundwasser, in NRW ist sie in Möhne und Ruhr gelangt.
Überall in der Ruhr lässt sich PFT nachweisen, aus ihr wird das Trinkwasser von mehr als vier Millionen Menschen entnommen. In Arnsberg wurde bis vor kurzem an Schwangere und Kleinkinder kostenlos Mineralwasser ausgegeben, weil die PFT-Konzentration stark erhöht war. Inzwischen reinigt hier ein Aktivkohlefilter für 150.000 Euro das Trinkwasser von PFT – eine Technologie, die mehr als die Hälfte der Wasserwerke im Ruhrgebiet nicht haben.
„Wir müssen das Zeug so schnell wie möglich wieder loswerden“, sagt Reinhard Loos. „Und wenn der ganze Boden abgetragen werden muss.“ Neben seinen wasserfesten Wanderschuhen fließt ein klares Rinnsal ins bewaldete Tal – und transportiert dabei Gift. Unsichtbares Gift. Schon im vergangenen Jahr hatten die Bewohner von Brilon-Scharfenberg das Gefühl, dass mit der Weihnachtsbaumplantage vor dem Dorf etwas nicht stimmt. „Das stank vielleicht hier“, sagt Loos‘ Parteikollegin Christiane Kretschmar. „Schlimmer als jede Gülle.“
Am schlimmsten stank es in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr 2004. Nachts um drei Uhr kamen die Düngewagen, erinnern sich Dorfbewohner. Reinhard Knaden ist jede Nacht davon aufgewacht. Landwirtschaftlich macht Düngen um diese Zeit im Jahr keinen Sinn. An keinem einzigen Tag im Dezember lag die Außentemperatur über minus vier Grad Celsius. „Der Boden war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hart wie Stein“, sagt Reinhard Loos. „Allen daran Beteiligten muss klar gewesen sein, dass da etwas Illegales abläuft.“ Mehrere Scharfenberger meldeten sich bei der Kreisverwaltung. „Reagiert hat keiner“, sagt Loos. „Die ganzen komplizierten Düngemittel- und Abfallverordnungen zu überprüfen, war wohl zu anstrengend.“
Deshalb kam das PFT-Problem in NRW auch nur zufällig ans Licht. Forscher der Universität Bonn wollten wissen, wie stark Deutschlands Gewässer mit der Chemikalie belastet sind, die in den USA schon seit 20 Jahren von Umweltmedizinern kritisch beobachtet wird und auch in der deutschen Industrie seit Jahrzehnten verwendet wird. Jetzt erforschen Umweltmediziner in NRW nicht mehr nur Wasser, sondern auch das Blut von 340 Grundschulkindern, Müttern und Männern aus Brilon im Vergleich mit 340 Siegenern.
Gegen die Firma GW Umwelt und ihre thüringische Geschäftspartnerin Terra Vital wird ermittelt. Die ersten Schadensersatzklagen laufen. Damit das Gift jetzt schon beseitigt werden kann, hat das Land eine Million Euro zur Verfügung gestellt. Ob das Geld jemals zurückkommt, ist unsicher. Terra Vital hat in der vergangenen Woche Insolvenz angemeldet.
Aber auch die Bauern sind in den Blickpunkt der Ermittler gerückt. Bis zu 30 Euro Prämie pro Tonne Terrafarm sollen sie von GW Umwelt bekommen haben. „Allein hier sind dann um die 100.000 Euro geflossen“, sagt Reinhard Loos. „Denen muss doch klar gewesen sein, dass sie an einem Umweltskandal mitwirken.“
Die Selbstorganisation der Bauern, der Westfälisch-Lippische Landwirtschaftsverband (WLV), weist solche Vorwürfe zurück. „Es ist völlig normal, dass Bauern Bodenbeschleuniger geschenkt oder sogar prämiert bekommen“, sagt WLV-Sprecher Hans-Heinrich Berghorn. „Die Müllfirmen können kostenlos Müll entsorgen, die Bauern kriegen Mineralstoffe auf die Böden.“ Dass eine Firma kriminell Industriechemikalien untermischt, könne keiner wissen. „Dass es für die Bauern Geld gibt, ist jedenfalls kein Indiz.“
Dass Schlamm aus kommunalen Kläranlagen auf Feldern entsorgt wird, ist tatsächlich legal, das wurde 1998 in der Bioabfallverordnung festgeschrieben. „Ein Skandal ist das, in jedem Haushalt werden schließlich Chemikalien verwendet“, sagt Matthias Schulte-Huermann. Eine Meinung, die viele Umweltwissenschaftler teilen. Auch Schulte-Huermann wohnt im Hochsauerlandkreis und bis zum Sommer saß er für die Grünen im Kreistag. Jetzt hat er zusammen mit Reinhard Loos die Sauerländer Bürgerliste gegründet. „Wahrscheinlich werde ich auch noch aus der Partei ausgeschlossen“, sagt er.
Matthias Schulte-Huermann hat kurz nach dem Bekanntwerden der hohen PFT-Werte in seinem Landkreis die ehemalige Landesumweltministerin Bärbel Höhn (Grüne) wegen „Verschleierung von Trinkwasservergiftung“ angezeigt. „Obwohl ich seitdem von den Grünen vor Ort fertig gemacht werde, hat sich das gelohnt“, sagt Schulte-Huermann. „Am Anfang haben die NRW-Grünen nur bessere Wasserwerke für das Ruhrgebiet gefordert, jetzt problematisieren sie die Bioabfallverordnung und suchen die Verursacher des Skandals.“
Bärbel Höhn und die NRW-Landtagsfraktion der Grünen, inzwischen in der Opposition, halten Schulte-Huermanns Vorwürfe für „irregeleitet“. „Wir haben die Probleme mit der Abfallverordnung immer angesprochen“, sagte Bärbel Höhn jüngst im taz-Interview. Im NRW-Landtag greifen die Grünen den neuen Umweltminister Eckhard Uhlenberg (CDU) scharf an. „Es muss noch mehr PFT-Quellen geben“, sagt Johannes Remmel, umweltpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion. „Es fließt mehr Gift in den Möhnesee herein als wieder raus. Und unser Umweltminister versteift sich auf einige wenige Felder als PFT-Quellen, das ist grob fahrlässig.“
Reinhard Knaden wirft eine Handvoll Fischfutter in seinen Teich. Die Forellen schnappen hungrig nach den Klümpchen. „Abschlachten und entsorgen muss ich sie“, sagt Knaden. Wer das bezahlen soll, kann ihm niemand sagen. Die Kreisbehörden haben ihn an die Verursacherfirmen verwiesen. „Dass die zahlen, erlebe ich wohl nicht mehr.“