: Die Stereotype vom Stammtisch
China wird in 20 Jahren die große Weltmacht sein, sagt die „Tagesschau“. Das ist UnfugDAS SCHLAGLOCH von ILIJA TROJANOW
Neuerdings wird man an den Stammtischen gelegentlich Komplize eines Gesprächs, das sich ungefähr so entwickelt:– China wird in zwanzig Jahren die größte Weltmacht sein. Kam gestern in der „Tagesschau“. Wird die USA überholen.– Ja, das habe ich auch gehört, China ist in zwanzig Jahren die Nummer eins.– Unglaublich.– Wieso?– Die USA, die sind doch militärisch so stark, das holen die Chinesen nie auf.– Es kommt nur noch auf die Wirtschaft an. Begreifst du das nicht? Und wer wird schon China angreifen wollen? Nicht einmal die Amis!– Aber die Chinesen kopieren doch nur alles.– Ja, die machen alles nach und machen dann den großen Reibach. Wir können bald einpacken.
Gewiss arbeiten bei der „Tagesschau“ einige Journalisten, aber eine Prognose von solcher Tiefenunschärfe als Nachricht zu verkünden – das ist selbst für das Fernsehen starker Tobak. Zumal die Zuschauer nicht darüber informiert wurden, was diese „Weltmacht“ genau ausmacht.
Unfug dieser Art dient allein dem Zweck, in die allgemeine Angstmacherei einzustimmen, die sich seit einiger Zeit breitmacht, die Angst vor dem Aufstieg Chinas. Eine Angst, die mit Stammtischparolen und Stereotypen geschürt wird. Es wird dieser Tage wieder unbeschwert von einem Weltwirtschaftskrieg geraunt. Allen voran raunt ein bekannter Magazinjournalist und Bestsellerautor, der sich mit seiner reißerischen Panikmache als der Stephen King der Pauschalökonomie profiliert.
Kaiser Wilhelm II. klatscht gewiss vergnügt in die grabesschweren Hände über die Warnungen vor der angeblich drohenden Vormachtstellung Asiens, den Aufruf zum Kampf gegen die asiatischen Angreiferstaaten. Denn die halbstarken, verlogenen Schlitzaugen (die Inder werden gelegentlich mit den Chinesen in einen Topf geworfen, aber wir sollten seriös bleiben und uns einen Feind nach dem anderen vornehmen) wollen uns an den Frieden und an den Wohlstand.
Wer aber dieser Tag selbst nach China reist, wird das Land, das sich hinter unseren Verflachungen erhebt, nicht wiedererkennen. In den großen Städten ist ein Pionier- und Kampfgeist spürbar, der den westeuropäischen Besucher überwältigt und vielleicht auch ein wenig beschämt, und bei der Rückkehr nach Deutschland wirkt dieses Land schmerzhaft unterbevölkert und friedhöflich sediert. Die Chinesen sind ernsthaft dabei, die kleinen Chancen, die sich ihnen bieten, zu nutzen, sie haben offenkundig keine Zeit für Mittelmäßigkeit, Jammerei oder Resignation. Jeder, dem ich in professioneller Hinsicht begegnete, war hervorragend vorbereitet und strahlte eine gewisse Lust oder gar Gier aus, etwas zu lernen und zu erfahren. Der umtriebige Direktor des Goethe-Instituts in Peking erzählte von einem Auftrag, den seine Organisation kürzlich einer jungen Chinesin erteilt habe. Sie sollte ein neues Konzept für die Öffentlichkeitsarbeit entwickeln. Nur Tage später sei die Frau mit einem blendend durchdachten und strukturierten Papier von etwa 60 Seiten Länge wiedergekommen, und nach zehn Tagen habe sie etwas irritiert nachgefragt, wann denn die Entscheidung gefällt werde und wie lange sie noch im Ungewissen warten müsse. Ein Jahr in Schanghai, sagen die Ortskenner, sei wie anderswo fünf Jahre.
Der Frust über die Erfolge Chinas ist die Reaktion eines Spielverderbers. Wie ein hochrangiger deutscher Manager mir in Peking sagte: „Wir haben auf freie Märkte gepocht, wir haben die WTO-Verhandlungen vorangetrieben, und nun wundern wir uns, dass uns daraus nicht nur Vorteile erwachsen. Wir müssen mit den Folgen leben.“ Er war, zusammen mit einer Reihe von Vertretern deutscher Großkonzerne, zu einer Diskussion mit dem tibetanischen Autoren Alai erschienen, der seine Romane auf Chinesisch schreibt und dem es gelang, die reaktionäre Haltung vieler Tibetnostalgiker zu desavouieren, ohne sich der offiziellen chinesischen Politik gegenüber anzubiedern.
Die Wirtschaftsleute waren vorab etwas nervös wegen des Themas „Tibet“, aber zu ihrer Überraschung sahen sie sich einem selbstbewussten Intellektuellen gegenüber, der die chinesische Identität erweitern will. Auch was Tibet angeht, wurde an diesem Abend klar, operieren wir oft mit veralteten Dichotomien. Beim anschließenden Umtrunk äußerten sich die meisten Manager eher skeptisch über die Potenz der chinesischen Wirtschaft. Ein Autohersteller hegte Zweifel, ob es den Chinesen gelingen werde, mittelfristig selbst ein preiswertes und zugleich technologisch konkurrenzfähiges Fahrzeug zu produzieren. Und der Vertreter eines Chemiekonzerns wies darauf hin, dass Deutschland als Exportweltmeister wie kein anderes Land von der wirtschaftlichen Dynamik profitiere, die in China entfesselt worden sei.
Erstaunlich für einen Neuankömmling ist vor allem die Lebenslust, die einem allerorten (in Großstädten wie Schanghai und Peking wohlgemerkt) entgegenstrahlt. Vor Jahren sagte mir einmal eine Kollegin aus Hongkong, die Chinesen seien wie die Italiener Ostasiens und die Japaner wie die Deutschen. Trotz des wohl blutigsten Unterdrückungsstaates der Weltgeschichte, trotz einer spürbaren Entfremdung von manch eigenen Traditionen, die Menschen strahlen eine Daseinsfreude aus und scheinen geradezu darauf zu warten, ins Lachen geschubst zu werden. Denn in Sachen Humor unterscheiden sie sich dankbar wenig von uns Mondäugigen.
Besonders ironisch ist jedoch, dass die chinesischen Autoren wenig Weltmacht, sondern an jeder Ecke ihres Landes gewaltige Probleme sehen, die ihnen teilweise unlösbar erscheinen. Das ganze Bildungssystem sei mangelhaft, zumal die Eltern neuerdings selbst für die Grundschule zahlen müssten! Die Stadt Peking versande allmählich wegen des Fortschreitens der Wüste im Norden. Der Smog ist unüberatembar. Und das Essen schmeckt zwar hervorragend, doch der Appetit könnte einem rasch vergehen, wenn man Zhou Qings Reportage „Was für ein Himmel“ liest, in dem die weitreichende Vergiftung der Nahrungsmittel minutiös dokumentiert wird. Die Menschen in China wehren sich an vielen Fronten – amtlich wurden letztes Jahr 70.000 “Aufstände“, darunter fallen auch Demos, verzeichnet.
Auch im Alltäglichen löckt man wider den Stachel der Autoritäten. Auf dem Weg zum Flughafen war die linke Fahrspur der Autobahn für die afrikanischen Staatschefs abgesperrt worden, die nach einem Gipfeltreffen abreisten. Doch kaum kehrten die Autos einem der abkommandierten Polizisten den Rücken, schlängelten sie sich in die freie Spur, um davonzurasen, bis knapp vor den nächsten Wachhabenden, dessen hektischer Gebärden es nicht bedurfte, damit sie sich wieder rechts einfädelten. Der gesunde Widerstandsgeist der Chinesen entspannte die Verkehrssituation. So etwa, sagte meine Begleitung, werde auch die Zensur umgangen.