: Lob des Sowohl-als-auch
BERLIN Gegen die nationalistischen Tendenzen von Angela Merkel und die rassistische Sarrazin-Mitte, für multiple Zugehörigkeiten und alternative Moderne. Ulrich Beck und Renate Künast sprachen über Weltinnenpolitik
VON ULRICH GUTMAIR
Ulrich Beck sitzt am Donnerstagmittag im Foyer des Deutschen Theaters und freut sich. Er freut sich, dass nicht nur er da ist, sondern auch Renate Künast. Denn heute sei es alles andere als selbstverständlich, dass sich Sozialwissenschaftler und Politiker über wesentliche Dinge unterhalten, sagt er. In der Tat haben die stetige Beschleunigung des Informationsflusses, gepaart mit der Doktrin der Alternativlosigkeit des Bestehenden, dazu geführt, dass die westlichen Gesellschaften anscheinend kein großes Bedürfnis zu denken mehr verspüren. Die Bologna-Reform besorgt den Rest.
Dabei hat Beck in seiner in der Frankfurter Rundschau erschienenen Kolumne zur „Weltinnenpolitik“ gezeigt, wie instruktiv es sein kann, mitten im Strom der Ereignisse innezuhalten und über das Gegenwärtige nachzudenken. Renate Künast hat bei der Lektüre, wie sie eingangs erklärt, insbesondere Becks Gedanken mit Interesse zur Kenntnis genommen, „der globale Andere“ lebe heute „de facto in unserer Mitte“. Das hält Beck für eine Folge der neuen Weltinnenpolitik: „Weltinnenpolitik heißt: Egal wie sympathisch oder fremd uns die Menschen anderer Hautfarbe, Nationalität und Religion erscheinen, wir müssen, um zu überleben, mit diesen ‚fremden Anderen‘ in dieser Welt der Korruption, des Leidens und der Ausbeutung zusammenleben und zusammenarbeiten.“ Renate Künast gelingt es, das Beck’sche Gebot nonchalant zu einem kategorischen Imperativ für das 21. Jahrhundert zu verdichten: „Lebe nicht auf Kosten anderer!“ Das müsse zum zentralen Wert werden. Beck und Künast verstehen sich also prächtig, und daran ändert auch nicht, dass Beck auf Künasts Einwürfe stets mit „Ja, aber“ antwortet.
Ulrich Beck hat mit „Weltinnenpolitik“ einen Begriff gewählt, der sofort einsichtig ist. In einer Welt mit offenen Märkten und hochvernetzten Kommunikationswegen bringen das transnationale Kapital und international agierende Unternehmen einzelne Staaten und Gemeinwesen immer wieder neu in Konkurrenz zueinander. Unter diesen Bedingungen wird der Ruf nach nationaler Abschottung, wird nationaler Egoismus zur gängigen Reaktion. Beck geißelt Kanzlerin Merkel, die sich die desolate Lage Griechenlands zunutze gemacht habe, um „Resteuropa die deutsche Stabilitätspolitik aufzuzwingen“. Künast sekundiert, die Konsequenz aus der Krise müsse vielmehr die Schaffung einer europäischen Wirtschaftsregierung sein. Die Deutschen sollten sich mal fragen, wie wir unsere Binnennachfrage erhöhen.
Mehr Verständnis zeigt Beck für die Abschottungstendenzen in jener Hälfte der Bevölkerung, die – quer zu den Hierarchien stehend – Globalisierung als Gefährdung ihrer Existenz interpretiert. Im Zug dieser Tendenzen greife allerdings ein demokratischer Rassismus der Mitte (Sarrazin) um sich, ein essenzialistisches Selbstverständnis breche sich Bahn. Becks Diagnose ist auch hier akkurat, obschon wenig verblüffend. Der Witz ist die Konsequenz, die er daraus zieht. Statt sich einem Kulturpessimismus zu ergeben, plädiert er immer wieder aufs Neue optimistisch dafür, dass sich mit dem Bewusstwerden globaler Risiken auch Räume für alternative Zukunftsentwürfe öffnen. So wendet er den Blick auf die andere Hälfte der Bevölkerung, die in der Globalisierung eigene Handlungschancen erkenne. In binationalen Ehen, Liebschaften et cetera werde Weltinnenpolitik bereits tagtäglich praktiziert. Im gesellschaftlichen Bewusstsein sei das nur zu wenig präsent.
Jedes vierte Kind, das derzeit in Deutschland geboren wird, hat eine Mutter oder einen Vater mit einem ausländischen Pass. Aus der herrschenden Logik der Entweder-oder-Integration müsse daher eine Anerkennung der Sowohl-als-auch-Identitäten, des real existierenden Kosmopolitismus treten, sagt Beck. Dieser mache Berlin zu einem exemplarischen Ort der Weltinnenpolitik, zu einem Kreuzungspunkt der Handlungsformen. Renate Künast, die Regierende Bürgermeisterin dieses Kreuzungspunkts werden möchte, tut gut daran, sich darauf einzulassen, anderen beim Denken zuzuhören und selbst über den Tag hinaus zu denken. Die Kosmopoliten werden es ihr danken.