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Archiv-Artikel

Die Sehnsucht nach dem Fremden

„1001 Nacht – Wege ins Paradies“: In seiner neuen Sonderausstellung macht sich das Überseemuseum Bremen auf die Suche nach den Bildern vom Paradies im Orient. Nur eines haben die Ausstellungsmacher zwischen Edelsteinen und blühenden Gärten nicht gefunden: Ein Pendant für die Gegenwart

„Heute ist das Paradies zum Versprechen ewiger Jugend verkommen“

VON JENS FISCHER

Es ist Krieg im Paradies. Im Garten Eden, den Wissenschaftler im Grenzgebiet zwischen Türkei, Iran und Irak verorten. In einer fruchtbaren Ebene, wo eine Jäger-/Sammler-Kultur von einer agrarischen abgelöst wurde. Es ist eine Region, in der heutzutage der Islam gegen sich selbst, gegen die Armut und gegen das Feindbild eines kreuzzüglerischen Westens kämpft. Dieser antwortete – und zog die Achse des Bösen mitten durchs Paradies. Feindbild Islam. Trauriger Orient.

Das sind die Bezugspunkte der mit „1001 Nacht – Wege ins Paradies“ betitelten Sonderausstellung im Überseemuseum Bremen. Deren Thema lebt von der Spannung zwischen der Sehnsucht nach und der Angst vor dem Fremden. Wobei gleich eingangs klar wird, dass sich das Verständnis des wahren Paradieses grundsätzlich verändert hat, nämlich hin zum Warenparadies, das so gar nichts mehr von einer Utopie hat. Aber schnell kommt die leuchtend bunte Schau zu ihrem durchaus politischen Anliegen: Zu zeigen, dass der Orient für den Westen über Jahrhunderte nicht zu Dämonisierung und Verteufelung taugte, sondern als Synonym für das Paradies genutzt wurde – mit Bagdad als Zentrum, der Stadt des Friedens, der Düfte und des Luxus.

Nichts vom diesem geträumten Idealbild stimmt mehr. Als Streitobjekt zwischen Mongolen, Persern, Türken und Amerikanern entwickelte sich Bagdad zu einer gesichtslosen, verdreckten, zerschossenen Großstadt. Im Überseemuseum aber wird die geschundene Metropole wieder als eine kulturhistorische Fata Morgana über einem Meer der Geschichten vorstellbar.

„Es ist mir zu Ohren gekommen“, so beginnt Scheherazade jede ihrer poetischen Ausführungen, die sie Nacht für Nacht ihrem Gatten, König Schahriyar, erzählt, um ihr Leben zu retten. Die Geschichtensammlung „1001 Nacht“ gilt hierzulande als Synonym für orientalische Kultur gilt, obwohl die Rahmenhandlung aus Indien stammt. Nach persischen Fassungen wurden die Geschichten im Mittelalter ins Arabische übersetzt, wobei neue Episoden von geheimnisvoll schönen Frauen, mächtigen Sultanen und opulenten Festmählern entstanden. Die erste europäische Übersetzung schuf der französische Altorientalist Antoine Galland im 18. Jahrhundert, die zum Zentralobjekt europäischer Orientbegeisterung avancierte. Aber bereits im Mittelalter bewunderte man die Künste und Wissenschaft des Orients. Aufklärer wie Montesquieu, Voltaire oder Lessing verwandten später das Bild des edlen Muslims, das dem des edlen Wilden entsprach – und so ziemlich das Gegenteil des islamistischen Gotteskriegers darstellt. Mit der Romantik erreichte die islamophile Orientbegeisterung neue Höhen, die – trotz des jüngst aufgekommenen Feindbildes Islam – auch heute nicht verschwunden ist. Wer etwa einen Blick in die Medina von Marrakesch wirft, erkennt, dass immer mehr Europäer ein Altstadthäuschen erwerben, nach ihren Vorstellungen vom Orient zurechtbasteln und mit den Segnungen westlichen Komforts veredeln.

Weil „1001 Nacht“ eine multikulturelle Anthologie der Erzähltraditionen von Kairo bis jenseits des Indischen Ozeans darstellt, sehen wir im zentralen Gang der Bremer Ausstellung einen indischen Fensterladen, iranische Fliesenbilder, ein ägyptisches Haremsfenster, Ölgemälde der europäischen Orientalisten und den Prunk des Morgenlandes: Porzellan, Waffen, Musikinstrumente, Gewänder. Rechts und links davon öffnen sich acht Pfade, die dazu einladen, Paradiesvorstellungen nachzustöbern. Besuchern ergeht es dabei wie Lesern der „1001 Nacht“: Fabulös verwirrt angesichts der überquellenden Anregungen in teilweise labyrinthischer Enge, verliert man schnell die Übersicht. Im Buch zwischen all den Königssöhnen und Wesir-Töchtern in den Palastwinkeln – in der Ausstellung zwischen Atlantis, Shangri-La, El Dorado und der Südsee sowie in all den Sozial- und Architekturutopien.

Ganz in der Tradition des Überseemuseums verbindet die Schau dabei Handels-, Völker- und Naturkunde. Erklärt wird, wie unterschiedliche Kulturen an der Seidenstraße dem Motto folgen: Du sollst dir ein Bildnis machen und sich das Paradies als Garten vorstellen. Der Garten Eden, dieser beiläufige Geniestreich eines maßlosen Künstlers, zeichnet sich laut Bibel durch herumwachsende Feigenblätter, köstliche Früchte, Gold und einen vermaledeienden Apfelbaum aus. In der Sure 47 des Korans ist das Paradies als Mehrstromland zu erleben, durchzogen von Bächen mit frischem Wasser, berauschendem Getränk, Milch und Honig; fünf Suren später springen auch „Jünglinge wie wohlbehütete Perlen“ durchs Bild, servieren Früchte aller Art und Fleisch. Noch reizvoller ist das Paradies-Resort in den Heiligen Schriften des Amitabha-Buddhismus. Diese Welt, die körperliche und geistige Schmerzfreiheit garantiert, ist geschmückt mit Palmbäumen, Silber, Kristall, roten Perlen, Diamanten, Korallen, Lotusblumen in vieler Farben Glanz und goldenem Strandsand. Dreimal pro Tag und Nacht geht auf diese Wellness-Oase ein Blütenregen nieder. So viel Schönheit kann man nicht dem Jenseits überlassen, die versucht man im Diesseits zu kopieren: als eingeheckte Ordnung gegen die Unordnung und Bedrohung der Welt drumherum. Paradies als Negativabzug der Realität. Und als Streben nach Einheit mit einer idyllisierten Natur.

Das Überseemuseum erinnert an die Weltwunder-Gärten von Babylon, die formvollendete Anlage um das indische Taj Mahal, an Klostergärten, den Barockgarten in Hannover-Herrenhausen, an englische Landschaftsgärten, aber auch an die Verkleinbürgerlichung der Idee in Form von Tier- und Schrebergärten. Denkt der Bremer Bürger beim „Paradies“ auch an den Bürgerpark? Die Ausstellungsmacher fragten für einen Film nach und hörten stattdessen Assoziationen wie: Sonne, Palmen, Strand, rumknuddeln, ausschlafen. Und lecker viel essen. Urlaub als Paradies als Schlaraffenland.

Warum überhaupt Paradies? „Weil wir Angst vorm Sterben haben“, verdeutlicht Ausstellungsmacherin Andrea Müller. Paradies bedeute ewiges Leben, das auch gern mit der Metapher vom Jungbrunnen daherkomme. „Heute ist es zum Versprechen ewiger Jugend verkommen.“ Weswegen das Überseemuseum auch Viagra-Pillen und Anti-Aging-Cremes ausstellt – sowie eine Schlangenhaut in eine Vitrine drapiert hat. Frisch gehäutet und neu geboren weiterleben. Andererseits, so die Kulturwissenschaftlerin, sei Paradies ein „Glücksgefühl“, ein Moment, den man verewigen möchte. „Heutzutage stellt sich dieses Gefühl bereits ein, wenn man Arbeit hat“, meint Andrea Müller. Eine Degeneration des Paradiesbegriffs. „Denn die Frage nach dem Paradies meint doch immer auch, wie wir leben möchten und was uns wichtig ist“. Genau diese verbindende, das individuelle Glücksstreben transzendierende Idee haben die Ausstellungsmacher vergeblich in der Gegenwart gesucht: irdische Paradiese, politische Utopien, Gesellschaftsentwürfe. So hat man sich schon einmal vorgenommen, in der nächsten Ausstellung zumindest dem Gegenbild auf die Spur zu kommen: „Das Böse – all about evil“. Ab Herbst 2007 wird dann auch im Überseemuseum deutlich werden: Es ist Krieg im Paradies.

1001 Nacht – Wege ins Paradies, Überseemuseum Bremen, bis 30. Juli 2007, Di–Fr 9–18 Uhr, Sa/So 10–18 Uhr, www.1001nacht-bremen.de