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Archiv-Artikel

Eine kurze Überlebensgeschichte

DASEIN Ein Gespräch über die höhere Tochter Julia, die einen Burberry trug, sich einmal zu viel Heroin gespritzt hat und dann einfach verschwand

David Wagner

■ Stationen: Wagner wurde 1971 in Andernach geboren, veröffentlichte das vielbeachtete Romandebüt „Meine nachtblaue Hose“, die Erzählungen „Was alles fehlt“, zuletzt den Prosaband „Spricht das Kind“ (Rowohlt). Er wurde u. a. mit dem Walter-Serner-Preis, dem Dedalus-Preis für Neue Literatur und dem Georg-K.-Glaser-Preis ausgezeichnet. David Wagner lebt in Berlin.

■ Silvester: „Wie feiern Sie?“ – „Ich werde an Silvester wohl, obgleich eigentlich Umlandhasser, durch tiefen Brandenburger Schnee stapfen.“ Foto: Amélie Losier

VON DAVID WAGNER

Es scheint doch zum unabdingbaren Erfahrungsschatz eines jeden Erwachsenen zu gehören, mindestens einmal schon beinah gestorben zu sein. Jeder will schon mal fast überfahren worden sein. Oder ertrunken, in einer großen Welle am Strand, im Urlaub am Meer. Beinahe wäre auch das Flugzeug, in dem man saß, abgestürzt oder um ein Haar, es war ganz knapp, mit einem anderen auf der Rollbahn kollidiert.

– Ja, selbst in Friedenszeiten ist Leben im Rückblick bloß Überleben. Was für ein Wunder, dass wir und alle um uns herum noch das sind.

– Julia S. hatte die beste Überlebensgeschichte. Hat sie aber nicht jedem erzählt.

– Dir aber schon, oder woher kennst du sie?

– Ich habe nie danach gefragt, wahrscheinlich fing sie deshalb eines Tages damit an.

– Und, was war? Und warum heißen deine Freundinnen immer Julia?

– Es fängt harmlos an, mit Teenagerkiffen, beim Zelten, mit ihren Freundinnen, auf einem Festival. Dreizehn oder vierzehn war sie da. Sie hat dann halt immer weitergemacht. Hat alles genommen, alles ausprobiert. Hat gesucht. Hat LSD genommen, hat Kokain genommen. Sie hat es einfach wissen wollen. Alles war da und immer leicht zu haben, Heroin war schließlich ihre Droge. Die größte denkbare Erfüllung. Es gibt nichts Größeres, sagt sie noch heute. Nichts. Gegen Heroin ist alles klein, danach kann nichts mehr kommen. Höchstens noch mal Heroin. Und dann noch mal. Und so fort, und alles andere ist egal, alles andere gibt es gar nicht mehr. Anfangs hat sie nur geraucht, dann fing sie an zu junken.

– Hat Heroin vielleicht auch seines Namen wegen dieser Wirkung? Heroin ist so ein schönes Wort. Diese Vokalmelodie. Hört sich doch an wie von Sirenen gesungen.

– Sie hat aber fast immer Schore gesagt. Und Schore klingt gleich viel weniger glamourös. Und sie hatte unglamouröse Zeiten. Ein halbes Jahr hat sie jede Nacht in einem offenen Keller geschlafen und ist tagsüber meist Straßenbahn gefahren, von einer Endstation zur anderen, natürlich ohne Fahrschein. Die Kontrolleure haben sie überhaupt nicht mehr nach einem Fahrschein gefragt, weil sie schon wussten, dass es zwecklos war. Eingesperrt hätte man sie fürs Schwarzfahren ja doch nicht. Vielleicht, sagt sie, hatten die auch einfach Mitleid mit dem Junkie, der ich war.

– Und heute?

– Heute merkst du ihr nichts mehr an. Du würdest nicht glauben, dass sie die mal war, von der ich dir erzähle.

Eine Zeit lang hat sie gedealt, zusammen mit ihrem damaligen Freund. Den hat sie hin und wieder auch auf seinen Einbrüchen begleitet. Sie stand Schmiere und half beim Schleppen. Manchmal fand das in der Nachbarschaft der Häuser ihrer ehemaligen Klassenkameradinnen statt, da war sie natürlich schon von der Schule geflogen.

Einmal sind sie sogar im Haus einer früheren Freundin gewesen, das ging ganz leicht, weil sie wusste, wo der Schlüssel zur Kellertür lag. Was sie nicht wegtragen konnten, wurde im Gebüsch versteckt. Sie musste dann am nächsten Tag den Burberry ihrer Mutter anziehen und einen Seidenschal umlegen und so, als höhere Tochter verkleidet – aber was heißt verkleidet, eigentlich war sie die ja, die Droge war ihre Verkleidung – nachsehen, ob die Luft rein war.

Schließlich, eines Tages, trotz aller Vorsicht, die Überdosis. Herzstillstand. Jemand muss sie gefunden und den Krankenwagen gerufen haben, sie war klinisch tot und wurde wiederbelebt. Am vierten Tag, sie lag noch auf der Intensivstation, ist sie einfach aufgestanden, hat sich die Infusionsnadeln aus dem Arm gezogen und ist hinausmarschiert.

Warum sie abgehauen ist? Weil ihr einfiel, dass sie gar keine Krankenversicherung mehr hatte. Und wusste, dass sie keine Papiere bei sich trug, weshalb in diesem Krankenhaus, das hatte sie schon mitbekommen, niemand wusste, wer sie eigentlich war, und sie wollte nicht, dass auch diese Kosten an ihren Eltern hängen blieben. Deren Konten hatte sie ja schon ein paar mal mit gefälschten Schecks abgeräumt. Außerdem brauchte sie wohl dringend Stoff.