Brief an Poseidon

MENSCHEN Götter, was denkt ihr eigentlich über uns? Niemand spricht mehr von euch, die Fragen bleiben

VON CEES NOOTEBOOM

Du bist ein Gott, und ich bin ein Mensch. Dies ist, wie auch immer man es betrachtet, der Status quo. Vielleicht darf ich trotzdem fragen, was ich schon immer mal fragen wollte. Was ist für euch ein Mensch? Verachtet ihr uns, weil wir sterblich sind? Oder ist es genau umgekehrt? Seid ihr neidisch auf uns, weil wir sterben dürfen? Denn das ist natürlich euer Schicksal, auch wenn wir nicht wissen, wo ihr jetzt seid. Niemand spricht mehr von euch, das ist vielleicht bitter. Es scheint, als hättet ihr euch aufgelöst. Und dennoch – wenn es stimmt, dass ihr unsterblich seid, und davon gehe ich aus, dann müsst ihr immer bleiben. Das Ende der Welt, von dem du sprachst, ist noch nicht gekommen. Haltet ihr euch in der Nähe eurer leeren Tempel auf? Wart ihr süchtig nach den Opfern, die wir euch brachten? Habt ihr Sehnsucht nach uns? Eine Zeit lang sind wir euer Ebenbild, dann brechen wir zusammen, Ruinen, die noch denken und sprechen. Dann ähneln wir euch nicht mehr.

Doch was ist geheimnisvoller, jemand, der sterben kann, oder jemand, der nie sterben darf? Und damit bin ich wieder bei meiner ersten Frage: Was denkt ihr eigentlich über uns?

Heute am Meer gewesen, bei stürmischem Wind. Lange auf einem Felsen gesessen, auf die Wellen geschaut, grau und wild. Keine Antwort, natürlich nicht. Früher habt ihr euch zuweilen als Menschen verkleidet, um uns etwas zu sagen. Manchmal denke ich, dass es noch immer so ist, dass ich einem von euch begegnet bin. Aber sicher bin ich mir nie.

Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen