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Archiv-Artikel

„Fragte mich, wo mein Platz ist“

In Tschetschenien dokumentiert Taita Junusova die Menschenrechtsverletzungen aller am Konflikt Beteiligten. Weshalb sie die Separatisten ebenso zum Feind hat wie die russische Armee. Als Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte nimmt sie derzeit eine Auszeit vom Leben im Ausnahmezustand

„Wenn ich in Tschetschenien bin, kann ich mir kaum vorstellen, dass andere Länder auch Probleme haben.“

VON SILKE BIGALKE

Taita Junusova legt die Fotos auf den Tisch, als würde sie Spielkarten verteilen. Die zierliche Frau sagt kein Wort, ihr Gesicht bleibt ruhig. Sie sitzt aufrecht auf ihrem Sessel und rückt die Bilder gerade. Zuerst das mit der entblößten Frauenleiche, rücklings auf einer Bahre, ihr Kopf beginnt bereits zu verwesen. „Bevor sie starb, wurde sie vergewaltigt“, sagt Junusova, die damals bei der Öffnung des Massengrabes in Grosny dabei war. Sie deckt weitere Bilder auf. Noch mehr Leichen, die noch nicht lange unter der Erde gelegen haben können. Die Tschetschenin kennt den Anblick der verzerrten, toten Gesichter, er erschreckt sie nicht. Nicht mehr. „Der Mensch gewöhnt sich an vieles“, sagt sie. „Mir hilft der Gedanke, dass ich Verbrechen mit meiner Arbeit öffentlich machen kann.“

Als Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte lebt die tschetschenische Friedensaktivistin seit März in einer Zweizimmerwohnung an der Sternschanze. Die Stiftung bietet ihr Schutz, weil Junusova in ihrer Heimat nicht mehr sicher ist. Dort kämpft die Vorsitzende der Friedensorganisation „Echo des Krieges“ seit elf Jahren gegen Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten. Damit macht sie sich sowohl tschetschenische Rebellengruppen als auch das russische Militär zum Feind.

„Wir fahren an die Orte der Verbrechen, um Fotos und Aussagen von Betroffenen zu sammeln“, sagt Junusova. „Echo des Krieges“ braucht diese Beweise, um Klagen der Opfer vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu stützen.

Seit 1994 dauern die Kämpfe um die Unabhängigkeit der Kaukasusrepublik an. Bis heute werden Menschen verschleppt, von russischen Sicherheitskräften unter falschen Vorwürfen festgenommen, gefoltert und getötet, berichtet Junusova. Die Opfer und ihre Angehörigen davon zu überzeugen, für ihre Rechte einzutreten, wird für sie immer schwerer. „Nach elf Jahren Krieg haben sie ihre Hoffnung verloren“, erzählt Junusova. „Die Menschen wehren sich nicht mehr. Sie sind verschlossen.“ Sie steht auf und geht zum Computer neben dem Sofa. Startet einen alten Nachrichtenbeitrag über den Marsch der Mütter am 8. März 1995: Russische Frauen machten sich da auf den Weg von Moskau nach Grosny, um ihre Söhne, die Soldaten, aus dem Krieg zurückzuholen. Junusova, die aus dem tschetschenischen Bergbezirk Vedenskij stammt und seit 1990 als Kindergärtnerin arbeitete, schloss sich den Müttern noch vor der tschetschenischen Grenze an. „Als der Krieg losging, habe ich mich gefragt, wo mein Platz ist“, sagt sie.

Der Schmerz dieser Mütter und die Angst um ihre Kinder haben sie berührt. „Ja, Kinder liegen mir besonders am Herzen“, sagt die Menschenrechtlerin. Sie selbst kann keine Kinder bekommen. Ihr Mann hat sie deswegen verlassen. Nach dem Marsch der Mütter gründete Junusova 1997 den tschetschenischen Zweig der „Vereinigung der Frauen des Nordkaukasus“, aus welcher wiederum „Echo des Krieges“ hervorging. Für Junusova ist es logisch, dass sich vor allem Frauen zu Friedensorganisationen zusammenschließen: „Es sind eben die Mütter, die das Leben schenken. Deswegen können sie es auch am besten schützen“, sagt die 40-Jährige. Sie selbst sammelt Geld und Hilfsgüter und verteilt sie an Waisenkinder und junge Kriegsopfer.

Jetzt legt Junusova ein weiteres Bild neben die aufgereihten Fotos. Ein Mann mittleren Alters kniet auf einem Schutthaufen und schaufelt mit den Händen Staub in einen weißen Zinntopf. Er hätte erfahren, dass an dieser Stelle seine Eltern verbrannt wurden, erzählt die Menschenrechtlerin. Weil sie allein nach Deutschland gekommen ist, hat Junusova die kleinste Wohnung der Hamburger Stiftung bezogen. Sie könne ihre Arbeit nur deswegen machen, weil sie selbst keine Familie habe, sagt sie. Denn in Tschetschenien hat Junusova keinen festen Wohnsitz und lebt immer bei den Familien, deren Schicksal sie gerade dokumentiert. Sie hilft ihnen bei der Suche nach Angehörigen, die mitten in der Nacht von Unbekannten abgeholt und verschleppt wurden. Oft weiß niemand, ob der russische Geheimdienst oder tschetschenisches Militär die Entführer waren. Aber von beiden Seiten drohen dem Verschwundenen Folter und Tod, weiß Junusova.

Auch vor der Tür ihrer Mutter seien solche Sicherheitskräfte schon aufgetaucht, erzählt Junusova, hätten die Wohnung durchsucht und „Beweismaterial“ mitgenommen. Auch die 40-Jährige selbst ist mehrfach festgenommen und verhört worden. „Als ich nach Hamburg kam, war das ein Schock für mich“, sagt sie. „Ich bin die Möglichkeit nicht gewöhnt, mich zu entspannen.“ Sie beugt sich aus ihrem Sessel nach vorn, verschränkt die Arme vor der Brust und schaut auf den Tisch. Ihre blonden Haare hat sie unter einem schwarzen Tuch versteckt. Ihr Blick ruht auf den Fotos mit den Leichen. „Die Arbeit hinterlässt ihre Spuren“, sagt Junusova. Manchmal habe sie Gedächtnislücken. „Alpträume habe ich ständig.“

Nach einer Redepause lacht sie kurz auf und erzählt die Geschichte von dem Party-Feuerwerk, das sie eines Nachts aufweckte. „Ich habe gedacht, da startet eine große Militäraktion. Es hat lange gedauert, bis ich mich wieder beruhigt habe.“ Die Zeit bei der Hamburger Stiftung soll Junusova auch nach ihrer Rückkehr in die Heimat Schutz bieten. Die Tschetschenin macht die Arbeit von „Echo des Friedens“ in Deutschland publik und knüpft Kontakte zu anderen Hilfsorganisationen. In Bremen und Hamburg hat sie zum Beispiel Frauenhäuser für Mütter mit Kindern und für obdachlose Frauen besucht. „Ich fand interessant, dass es so etwas überhaupt gibt“, sagt sie. „Wenn ich in Tschetschenien bin, kann ich mir kaum vorstellen, dass andere Länder auch Probleme haben.“

Junusova legt ein neues Foto auf den Tisch. Es zeigt den jungen russischen Soldaten Wasilij, Arm in Arm mit einer tschetschenischen Frau. Bei ihr hat sich Wasilij monatelang versteckt, nachdem er desertiert war. Offiziere hatten Wasilijs Freund zu Tode geprügelt, weil er beim Wachdienst eingeschlafen war. „Wenn tschetschenische Jungen in die russische Armee müssen, werden sie dort manchmal ermordet“, sagt Junusova. „Die Jugendlichen wissen das.“ Deswegen flüchteten sich viele in die Armee des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, wo sie jedoch zu Verbrechen gezwungen würden.

Wenn sie zurückkommt, möchte sich die Friedensaktivistin deswegen auf die Jugendhilfe von „Echo des Krieges“ konzentrieren. Zusammen mit anderen Hilfsorganisationen will Junusova erreichen, dass mehr tschetschenische Jugendliche eine Ausbildung machen können. Und noch etwas hat sich Junusova für ihre Rückkehr vorgenommen: Sie will ein Kind adoptieren, ein kleines Mädchen. „Später kommt vielleicht noch ein Junge dazu“, sagt sie. „Dann sind wir eine ganze Familie.“ Bis zu einem normalen Familienleben wird es jedoch noch dauern. Denn ihren gefährlichen Job will Junusova nicht aufgeben. „Erstens kann ich nichts anderes tun. Und zweitens ist der Schrecken noch nicht vorbei.“

Am Sonntag erhält Taita Junusova den mit 5.000 Euro dotierten Friedenspreis „Sievershäuser Ermutigung“