: Mit Babuschka an der russischen Riviera
An der Mündung des Flusses Sotschi ins Schwarze Meer eröffnete 1907 das erste mondäne Hotel. 150 Kilometer lang ist Sotschi heute, der russische Kurort am Meer. Schon Stalin ließ sich in den neoklassizistischen Bauten kurieren. Ein kommunistisches Paradies zu Füßen des Westkaukasus
VON ANDREAS STROHFELDT
„Einst, sagt man, waren diese steinernen Schachteln die Behausungen listiger Zwerge, die sie sich von übermütig-dummen Riesen bauen ließen. Die Zwerge ritten auf Hasen und schossen mit Pfeilen in die kreisrunden Löcher. Wenn sie ungestört sein wollten, verstopften sie die Löcher mit jenen phallusgleichen Pfropfen.“ Fünf Frauen im mittleren Rentenalter begutachten die Dolmen genannten Behausungen der mittlerweile ausgestorbenen Zwerge und Riesen. Die Legende von den Riesen und Zwergen ist nicht die einzige über die rätselhaften drei bis fünftausend Jahre zählenden Hünengräber, von denen es an der Nordostküste des Schwarzen Meeres hunderte gibt, nunmehr eine Art Wallfahrtsort von Esoterikern und Objekt touristischer Ausbeutung.
Eine der fünf rüstigen Babuschkas (russ.: Großmütterchen) ist meine Mutter. Schon einmal hatte sie mich vor mehr als 30 Jahren, da war ich noch ein Schulbub, mit einer Reise nach Sotschi beschenkt. Damals sah ich die ersten Palmen meines Lebens, blühende Magnolien und Zitrusbäume, stattliche Zypressen, echte Teepflanzungen, und auf dem Flug nach Tbilissi, der georgischen Hauptstadt, erlagen wir der Faszination des Großen Kaukasus.
Unser Jeep jagt durch das Flusstal der Asché. An den Hängen dichte Laubwälder aus Esskastanien, Hainbuchen, Eichen. Eine fast 200 Meter lange Hängebrücke quert das Tal. Russische Ausflügler, die sich in einem der zahlreichen Orte am Meer erholen, steigen hier um in offene Lkws. Über Geröllfelder, ausgespülte Fahrrinnen und Furten rumpeln die Fahrzeuge zum ersten, dann zum zweiten Wasserfall im Tal des Flusses. Die Septembersonne am strahlend blauen Himmel steht schon hoch. Die in ihrem Oberlauf wilde Asché schnellt durch riesige Gesteinsbrocken, schäumt und gurgelt. Wir zwängen uns durch einen Felsspalt, gleiten hinein ins eiskalte Wasser. Jauchzen und johlen. Temperamentvoll genießen die Russen, selig die deutschen Babuschkas das Bad.
Unser Fahrer hat Äpfel aus dem eigenen Garten mitgebracht. Er erzählt nun von den Adygeern/Tscherkessen, denen dieses Land bis 1864 gehörte, vom Kaukasuskrieg und dem Exodus seines Volkes in die Türkei. Hunderttausende sollen damals umgekommen sein. Einige wenige kehrten nach 1917 hierher zurück. Asché, der nach dem Fluss benannte Ort am Meer, ist der nördliche Vorposten des mit 150 Kilometer längsten Kurortes der Welt – Sotschi.
Nach der Vertreibung der Kaukasier erschlossen Umsiedler aus dem russischen Kernland die Gegend. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde von der „russischen Riviera“. An der Mündung des Flusses Sotschi ins Schwarze Meer eröffnete 1907 das erste mondäne Hotel. Ca. 10 Kilometer südlich, im Tal der Mazesta, entnommene Proben eines schwefelhaltigen Mineralwassers versetzten die Fachwelt in helle Aufregung: Der Jungbrunnen ward gefunden!
Stalin, den der Hexenschuss plagte, ließ sich in unmittelbarer Nähe eine Villa und ein Badehaus errichten. In jenen Jahren entstand das Urbild Sotschis, die Grand Dame des russisch-sowjetischen Kurbetriebs. 1964 gab die Partei kurzum 150 Kilometer Küste und Bergland den begehrten Namen Sotschi, mit Sotschi-Stadt als dem Verwaltungszentrum. Der einspurige Schienenstrang, der die gut ein Dutzend Urlaubsorte miteinander verbindet, folgt dem Verlauf der steinigen Küste. Alle paar Minuten rollen endlose Passagierzüge an den Badenden vorüber. Mit dem Vorortzug, der „Elektrischen“, braucht man von Asché bis Sotschi-Stadt ca. zwei Stunden.
Menschenmassen ergießen sich auf den Bahnsteig. Sarkis hat uns erwartet, lädt die Koffer und Taschen in seinen Landrover. Der kräftige, untersetzte Armenier betreibt mit seiner Frau Natela eine kleine Pension an einem Berghang. Von der Terrasse schweift der Blick über das Zentrum von Sotschi-Stadt, die geschwungene, das Hafenbecken umarmende Mole, das Abfertigungsgebäude mit seiner 30 Meter hohen vergoldeten Spitze, die Platanenallee, die Wasserfläche des Pontos Euxinos (unwirtliches Meer), wie die Griechen das Nordmeer der Antike nannten. Etwas nördlich liegt ein Kriegsschiff vor Anker, untrügliches Zeichen dafür, dass Putin, der dort eine seiner Residenzen hat, vor Ort ist.
Ein erster Spaziergang. Gemütliche Stadtvillen, mit Säulenportikus und schmiedeeisernen Balkons, wuchernde Gärten. Der gepflegte Park mit seinen geradlinigen Blumenrabatten und einer überdimensionalen Lenin-Statue, umgeben von Palmen und Magnolien. Die Stadt schwimmt im Grün subtropischer Vegetation. Restaurants und Cafés, Spielbuden und Geschäfte, Baustellen, Menschenströme, Autokolonnen. Die gemütliche und heitere Grand Dame der sozialistischen Ära wirkt überfordert vom über sie hernieder gehenden Regen der Moskauer Petrodollars.
Inzwischen brechen die letzten orangefarbenen Strahlen der untergehenden Sonne Schneisen durch am Horizont sich auftürmende Gewitterwolken. Natela bringt uns einen Krug Muskatwein aus einem Bergdorf. Seine perlende Süße passt zum Aroma der warmen frühherbstlichen Nacht. Quartier hätten wir auch in einem der stilleren Dörfer nehmen können, in Loo zum Beispiel, knapp 20 Kilometer nördlich, mit seinen kilometerlangen Stränden und den schattigen Wäldern im Hinterland. Doch ist Sotschi-Stadt, trotz aller großstädtischen Schikanen, der bequemste Ort für Ausflüge in die Umgebung sowie für die Schwefelbäder von Mazesta. Dorthin fahren wir am nächsten Morgen.
Kurze Untersuchung beim Arzt: Sie haben Probleme mit dem Herzen? Nein? … Dann nehmen Sie die Bäder, insgesamt acht, nach jedem zweiten ein Tag Pause. Sie werden sich 20 Jahre jünger fühlen. – Minuten später lässt Ljuba das Wasser in die Badewannen. Sie ist so alt wie der Palast, in dem sich jährlich zehntausende Kurgäste aufpäppeln lassen. Die bädererfahrenen Babuschkas, die mit mir reisen, sind zunächst skeptisch. Ljuba, 70 Jahre alt, die ihr ganzes Arbeitsleben hier verbracht hat, weiß, wovon sie spricht: Nur Mut, der Effekt stellt sich später ein, aber er ist gewiss, egal ob bei Knochenbeschwerden, organischen Leiden oder nach schweren Operationen …
15 Minuten dauert das Bad. Danach ein Mineralwasser und frisch gepresster Granatapfelsaft. Die anfängliche Müdigkeit verfliegt. Der Tag hat eben erst begonnen.
Sotschi liegt auf einem Breitengrad mit Venedig, Nizza und New York. Im Winter von den Gebirgsketten des Westkaukasus geschützt vor den eisigen Winden aus den Steppen im Nordosten, stauen sich in den warmen Sommermonaten die warmen Luftmassen an den Gebirgshängen. Im feuchtwarmen Klima hat sich eine Vegetation erhalten, wie sie vor 20 Millionen Jahren in Mitteleuropa vorherrschte – die kolchischen Wälder mit tausende Jahre alten Eiben und Buchsbäumen, mächtigen lianenumrankten und moosbewachsenen Baumstämmen, dichtem Unterholz. Der Reliktwald, ca. 15 Kilometer südlich von Sotschi-Stadt, gehört mit seinen über 400 Pflanzenarten, davon 30 vom Aussterben bedroht, zum Weltnaturerbe der Unesco.
Die Augen der Babuschkas glänzen. Der Wald, schien es, redete mit ihnen. „Nein, lieblich ist dieses Land nicht, weder maßvoll noch heiter, eher archaisch und urwüchsig.“ – Sergej, der Deutschlehrer, der jedes Wochenende in den Bergen unterwegs ist, erzählt von wilden Canons, dichten Urwäldern, faszinierenden Höhlenlandschaften, zeigt uns Fotos von seinen tagelangen Wanderungen durch die rauen Bergwelten des Hochgebirges.
Krasnaja Poljana (Schöne Lichtung) – zum Großraum Sotschi gehörender, von bis zu 3.000 Meter aufragenden Gipfeln gerahmter Luftkurort und Wintersportzentrum im Westkaukasus an der Grenze zum völkerrechtlichen Niemandsland Abchasien. Die friedfertigen grauen kaukasischen Bienen sammeln hier den berühmten Kastanienhonig. Hinter Krasnaja Poljana beginnt das Westkaukasische Biosphärenreservat. Mit dem Jeep über Felsrippen und Bruchnarben jagend, hier und da mit zwei Rädern über dem Abgrund, gelangen wir zu einem Hotel im Hochwald, am Ufer der Chmeljowski-Seen. Es heißt „Edel“ und könnte auch irgendwo in den Alpen oder Pyrenäen stehen. Der Besitzer ist Jäger, Umweltschützer, Abgeordneter in der Stadt-Duma und nebenbei Unternehmer. Er winkt uns ins Gästezimmer. Über einem Kaminfeuer hängt ein verbeulter, vom Rauch geschwärzter Kessel mit Kräutertee. Einer der Gäste, Alexander, erzählt, dass Sotschi-Krasnaja Poljana in die engste Auswahl für die Olympischen Winterspiele 2014 geraten ist. Milliarden Rubel werden fließen, in die Infrastruktur, neue Trassen, Hotels und Sportstätten. „Da will jeder das größte Stück vom Kuchen.“ – Und der Naturschutz, das Biosphärenreservat? „Wollt ihr denn, dass dem Kaukasus das Gleiche widerfährt wie den Alpen?“ – Das sei nicht aufzuhalten, sagt Alexander. Maßlos sei die Gier des Geldes. Man könne den Schaden nur begrenzen, und schließlich: Russland sei unermesslich.
Eine klare Herbstnacht, den Sternen nahe. Stille, die man hören kann. Knapp zwei Stunden Fußmarsch sind es bis zu den Hochgebirgsalmen, noch einmal zwei Stunden bis zu einem Wasserfall. Viele Wanderer, die meisten mit Rucksack und Zelt, sind an diesem warmen Sonntag Ende September in den Bergen unterwegs. Müde und erschöpft kehren wir bei Sonnenuntergang ins „Edel“ zurück. Meine Babuschkas sind glücklich.
Einige Tage später, im Zug nach Moskau, will ich wissen, was sie am meisten beeindruckt hat: „Die Berge natürlich“, sind sie sich einig. „Und die Menschen.“ Sergej, der freundliche Deutschlehrer, Boris, der uns den höchsten russischen Genuss, ein Saunabad, mit Reisigruten und anschließendem Tauchen im kalten Quellwasser, bereitet hat, der Besuch bei einer Moskauer Künstlerin, in dem kleinen Bergdorf, wo ihrem kleinen privaten Museum die ganze Welt zu Hause zu sein scheint, die Begegnung mit der Geschichte von Adygeern/Tscherkessen im Bergdorf Tchagapsch, der Besuch auf einer Teeplantage und natürlich die drei Tage in Asché, die Ruhe und Gelassenheit dort.
Wir kommen früh an auf dem Kazaner Bahnhof von Moskau, stürzen uns kopfüber ins Gewimmel des Berufsverkehrs, verlieren uns, finden uns wieder, rasen mit der überfüllten Metro ins Zentrum, werden Opfer eines Taschendiebs. Es bleibt noch Zeit für einen flüchtigen Besuch der Tretjakow-Galerie – und am Nachmittag sind wir schon in Berlin. Hut ab, meine Damen!