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Archiv-Artikel

Das Mauerkind im Norden

WOHNEN Früher sprachen manche von der Hölle, heute wohnt man gerne hier – das Märkische Viertel feiert 50-jähriges Bestehen

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

50 Jahre sind für eine Stadt keine Zeit. Im Märkischen Viertel, der größten Trabantenstadt im ehemaligen Westberlin und bis heute Wohnort für 36.500 Menschen in 17.000 Wohnungen, hat diese kurze Zeitspanne Spuren hinterlassen. Das „Viertel ganz oben in Berlin“, wie die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Gesobau ihr Revier in Reinickendorf euphemistisch bezeichnet, spiegelt das Image moderner Großsiedlungen wider: die Stadt vom Reißbrett, Spekulation, fehlende urbane Einrichtungen, massive soziale Konflikte, hoher Sanierungsbedarf – aber eben auch Labor der Erneuerung.

Dass die Gesobau der Geschichte und dem zweifelhaften Ruf ihres Märkischen Viertels zu dessen 50. Geburtstag in diesem Sommer nicht aus dem Weg geht, gehört nicht unbedingt zum Programm großer Jubiläumsfeiern und ist darum umso ambitionierter. „3,2 Quadratmeter Leben“ heißt die Open-Air-Schau, die ab diesem Wochenende im Märkischen Viertel von den matschigen Anfängen 1964 erzählt, von den großen Architekten und ihren noch größeren Plänen, von den Mieterstreiks in den 1970er Jahren, von der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, die hier Sozialarbeit machte, von den Erneuerungen und wilden Kids, den Drogen und Bullen heute aus Sidos Rap „Mein Block“.

Vom Wilhelmsruher Damm quer durch das Viertel bis zum Senftenberger Ring sind 230 Tafeln wie Wahlplakate an Masten aufgehängt. Das Viertel quasi live!

Die Fotos in einen Ausstellungsraum zu stecken wäre auch einem Navigationsfehler der Kuratoren gleichgekommen. Wo, wenn nicht im Alltag, lässt sich dessen Geschichte besser erzählen. Nicht dass die „Märker“ museumsresistent wären. „Aber das ganze Märkische Viertel zu einem Ausstellungsort zu machen, lädt die Bewohner doch besser ein, ihr Umfeld kennenzulernen und den Ort von anderen Blickpunkten aus zu sehen“, sagt Stefan Gericke, Kommunikationsleiter bei der Gesobau.

Identifikation ist hoch

Aus welcher Perspektive die Wohnungsbaugesellschaft das Märkische Viertel 50 Jahre nach den Anfängen 1964 betrachtet, ist evident: „Die Qualitäten des Viertels wissen die allermeisten Bewohner sehr zu schätzen“, erklärt Jörg Franzen, Vorstand der Gesobau. Was nicht falsch ist: Laut einer Mieterbefragung sind die Menschen „mit dem Leben dort zufrieden“, trotz 7,60 Euro pro Quadratmeter Durchschnittsmiete. Die Identifikation mit dem Quartier sei hoch, sie liege bei 71,1 Prozent. Auch die Götterdämmerungen des östlichen Plattenbaus, Abriss und Verfall, sind am Märkischen Viertel vorbeigegangen. Der Leerstand beträgt aktuell (2014) rund drei Prozent, der Anteil von alten Bewohnen und der von Migranten macht jeweils über 20 Prozent aus. Das Märkische Viertel ist kein sozialer Brennpunkt mehr. Ist das Quartier mit seinem Zentrum, den Schulen, der Schwimmhalle, den bunten Wohnblöcken mit Grün drumherum deswegen ein Unikum unter den Großsiedlungen der 60er Jahre, wie einer der Erbauer, Hans Christian Müller, mutmaßte?

Das Märkische Viertel ist ein Mauerkind. Als die Wohnungsnot im geteilten Berlin 1961 dramatisch anstieg, entschied sich der Senat, auf dem 385 Hektar großen Areal in Reinickendorf bis 1974 einen neuen Stadtteil zu errichten. Man war nicht zimperlich: Ansässige Laubenpieper wurden geräumt, nach den Vorstellungen des Neuen Bauens drei moderne Wohnkomplexe – am Wilhelmsruher Damm, rund um den heutigen Senftenberger Ring und entlang des Dannenwalder Weges – für 17.000 Wohnungen geplant. Der städtebauliche Entwurf für die bis zu 20-geschossigen Hochhäuser stammte aus der Feder von Werner Düttmann, damals Senatsbaudirektor. Das Märkische Viertel sollte die größte Neubausiedlung Westberlins und mit 40.000 Bewohnern das größte bundesdeutsche Wohnprojekt werden. 1963 begann der Bau, am 1. August 1964 zogen die ersten Mieter ein. 1970 standen bereits 10.000 Wohnungen. Eine halbe Milliarde D-Mark wurde investiert.

Galt die Trabantenstadt anfangs noch als beispielhaft im sozialen Wohnungsbau – auch wegen der Ausstattung und avantgardistischer Baukörper –, so kippte 1968 die Stimmung angesichts der „deprimierenden Anhäufung phantasieloser Bauklötze“, wie der Tagesspiegel 1969 schrieb. Das Viertel war nicht zu Ende konzipiert, im öffentlichen Raum herrschte Ödnis, es fehlten Schulen, Läden, Gehwege, Spielplätze. Hinzu kamen bauliche Mängel und soziale Spannungen. Mieter wurden gekündigt, die Jugendarbeit vernachlässigt. Das Märkische Viertel, ein sozialer Brennpunkt, war in einem aggressiver Zustand Mitte der 1970er Jahre. „Die Hölle is det hier“, zitierte der Spiegel 1975 einen Bewohner.

Weiter eine Instantcity

Auch heute ist das Märkische Viertel keine pittoreske Stadtlandschaft, sondern bleibt eine Instantcity. Dass das Viertel aber besteht und nicht rückgebaut wird wie etwa Marzahn, liegt am Engagement seiner Bewohner sowie der Wohnungsbaugesellschaft, die sich für die Verbesserung des Wohnumfeldes seit den 1990er Jahren einsetzen, wodurch die Substanz kontinuierlich verändert wird. Das Geheimnis für das Unikum ist vielleicht, dass es sich immer wieder neu erfindet. Aktuell zum 50. Geburtstag wird das Märkische Viertel die erste Ökogroßsiedlung. Für 560 Millionen Euro wird es energetisch saniert. Komplett. Congratulations.

■ Das Festprogramm: www.mein-maerkisches-viertel.de