: Buchstaben über der Stadt
Graf Zahl und das grüne M: In der Ausstellung „Habenichts“ in der Galerie Barbara Weiss bringt die Künstlerin Ayse Erkmen die Zeichen der Stadt ins Trudeln, den Betrachter ins Stolpern und seinen Kopf auf neue Gedanken
Der Großstädter schützt sich mit heruntergelassenen Jalousien gegen neugierige Blicke. Die farbenfrohen Varianten von Ayse Erkmen ziehen die Blicke der Passanten dagegen auf sich. So hängt eine Jalousie in schrillem Pink nahe einer kräftig Gelben, die sich gut in jedem Solarium machen würde. Da die Jalousien außerdem zu schmal sind, um die Fenster vollständig zu bedecken, ist ihr eigentlicher Zweck in sein Gegenteil verkehrt: An diesen Jalousien gleitet kein Blick vorbei, sie ziehen ihn an und erwecken Neugierde auf die Räume dahinter.
Das sind die drei Räume der Galerie Barbara Weiss, die in Erkmens Ausstellung „Habenichts“ an eine reduzierte Variante des Wunderlandes von Lewis Carrolls Alice erinnern; auch hier verweigern sich die Größenverhältnisse jeder Norm. Was bei Alice der zu hohe Tisch und die viel zu kleine Tür, sind bei Erkmen zu schmale Jalousien und viel zu lange Teppiche. Letztere werden zu regelrechten Stolpersteinen für die Ausstellungsbesucher, die vorsichtig darüber schreiten und somit in ihrer gewohnten Schrittabfolge gestört werden. Dieses verzögerte Gehen führt letztendlich zu einem verzögertem und genauem Hinsehen.
Und das muss man, denn in der Ausstellung scheint nichts zu passen und die Dinge ihren Nutzen zu verlieren. Doch das tun sie nur im ersten Moment, denn die Jalousien sind gerade durch ihre Unangepasstheit letztendlich „anwendbar für jede Fenstergröße“, wie die Ausstellungsliste betont.
Signiert hat die Künstlerin ihre Einzelstücke auf originelle Weise: Schleifen aus Etikettenband, wie man es in Kleidung als Label findet, sind um jede Jalousie gebunden. Darauf ist in einer schön gestickten Handschrift der Name der Künstlerin zu lesen. Ist das Kunst von der Stange?
Erkmens Kunst lässt sich in ihrer Vielfalt kein Label aufdrücken. Bei der letzten in Berlin zu sehenden – oder hörenden – Arbeit der Künstlerin handelte es sich etwa um eine Intervention; die Klanginstallation U 8 am Alexanderplatz. Die Einfahrt der Bahnen wurde mit einer Melodie begleitet und so gewissermaßen auch neu signiert. Diese Arbeit war wie so viele Projekte der in Berlin und Istanbul lebenden Künstlerin temporär. Dies erklärt, warum Erkmen trotz ihrer Relevanz – sie war, neben vielen Einzelausstellungen, an Biennalen in Berlin, Asien und Kanada beteiligt – in Sammlungen kaum vertreten ist.
Ephemer sind auch die Situationen von „Habenichts“: An den Wänden der Räume hängen ungeordnet aus Plexiglas gestanzte Buchstaben und Ziffern. Die Synästhetikerin Erkmen hat sie in der Farbe fertigen lassen, in der sie sie empfindet. So leuchtet Erkmens M beispielsweise in sattem Grün von der weißen Wand. Ihr Alphabet hat nur 23 Buchstaben, wofür es einen einfachen Grund gibt: W, X und Z sieht Erkmen in Gold bzw. Silbertönen, die sich mit Plexiglas kaum umsetzen lassen.
Erkmen, die Bildhauerei an der Academy of Fine Arts in Istanbul studierte, ist erfrischend undogmatisch im Umgang mit der eigenen Arbeit. So wünscht sie sich Besucher aller Altersklassen für ihre Ausstellung. Und tatsächlich regt die Anwesenheit eines Kleinkinds zu einer weiteren Lesart an: Eignen sich die bunten Ziffern nicht als Requisiten für den didaktisch versierten Graf Zahl der Sesamstraße? Der verspielte Charakter der Ausstellung löst beinahe nebenbei zahlreiche Assoziationen aus.
Hält man sich eine Weile zwischen den farbigen Buchstaben auf, beginnt man Gesehenes sofort in Erkmens linguistisches Farbsystem zu kodieren. Deshalb ist es besonders schön, die Ausstellung bei Dämmerung zu verlassen. Dann kommt es zu einer wundersamen Wechselwirkung zwischen dem Gesehenen und den riesenhaften Buchstaben über Berlin. Erkmens Buchstabenanordnung, die sich von vorneherein einem festen Sinn entzieht, ist befreiend im Vergleich zu den gigantischen Werbetafeln, deren Aufschrift oft nur einen vermeintlichen Sinn ergibt.
LENA HACH
Galerie Barbara Weiss, Zimmerstr. 88–91, 10117 Berlin, Di.–Sa. 11–18 Uhr, bis 3. März