BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Her mit der Herrenhandgelenktasche!

Kaum ein Accessoire ist so umstritten wie die Handtasche für den Herrn – nur nicht bei meinem Vater, der hat sie gern

Mein Vater geht nie ohne sie aus dem Haus. Er wäre aufgeschmissen, verloren, ja nackt, hätte er sie nicht bei sich, seine Handgelenktasche. Darin bewahrt er auf, was andere in Hosen- und Jackentaschen stecken: Schlüssel, Geld, Ausweispapiere, Zigaretten. Mein Vater und seine Handgelenktasche, das ist eine über viele Jahre gewachsene Beziehung, eine Einheit wie Yin und Yang. Denk ich an meinen Vater, denk ich an Handgelenktaschen.

Am 3. Oktober waren meine Eltern wieder einmal zu Besuch in Berlin. Es hatte sich zufällig so ergeben, dass unser Familientreffen auf den Tag der Wiedervereinigung fiel. Frohen Mutes machte ich mich mit meiner Mutter, meinem Vater und seiner Handgelenktasche auf zu einem Spaziergang durch die herbstliche Hauptstadt. Als wir vor dem ehemaligen Reichsluftfahrtministerium in der Wilhelmstraße in Mitte standen, dem größten Verwaltungsbau Berlins, der mit einer wechselvollen Geschichte aufwarten kann, war die Feiertagslaune meines Vaters schlagartig weg.

Im Nationalsozialismus errichtet, war das Gebäude zu DDR-Zeiten das „Haus der Ministerien“ und in den 90er-Jahren Sitz der Zentrale der Treuhandanstalt, dessen Präsident Detlev Rohwedder war, bis er 1991 von der Roten Armee Fraktion erschossen wurde. Die Tasche meines Vaters baumelte jetzt nicht mehr unternehmungslustig an seinem Handgelenk. Drohend schwenkte er sie hinter seinem Rücken und schimpfte über „diese Gauner von der Treuhand“.

Vorsichtig zog ich ihn die Wilhelmstraße entlang bis zur Ecke Leipziger Straße. Dort befindet sich ein mehrere Meter langes Wandbild aus wertvollem Meißener Porzellan. Das Werk stammt aus dem Jahr 1952 und zeichnet ein mehr als rosarotes Bild vom Osten. Strahlende Jungpioniere mit frisch gestärkten weißen Blusen marschieren einer frohen Zukunft entgegen, begleitet von tatkräftigen Ingenieuren, überzeugten Funktionären und gleichberechtigten Frauen. „Was für eine Propaganda“, grummelte mein Vater ungehalten und krallte seine Finger in das weiche Leder seiner Handgelenktasche. Erst als er das nur wenige Meter entfernte Denkmal zur Erinnerung an den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 sah, entließ er sie aus dem Würgegriff.

Doch wirklich entspannt war er nicht. Während ich mir den Kopf darüber zerbrach, wie ich den Tag retten könnte, blickte mein Vater versonnen in den Himmel. Ein riesiger Ballon hoch oben in der Luft auf der gegenüberliegenden Straßenseite erregte seine Aufmerksamkeit. Ich war überrascht. Denn mein Vater hat eigentlich tierische Höhenangst. Doch nach den Ausflügen in die Niederungen der Geschichte stand ihm der Sinn nach Höherem. Sehnsuchtsvoll betrachtete er den Ballon, der sich beim Näherkommen als der weltgrößte Passagier-Fesselballon entpuppte.

Mein Vater verkündete, dass es an der Zeit sei, seine Höhenangst zu überwinden. Entschlossen öffnete er einen der vielen Reißverschlüsse seiner Handgelenktasche und kaufte ein Seniorenticket. Das war mit neun Euro so günstig, dass meine Mutter beschloss, ebenfalls aufzusteigen. Während wir darauf warteten, dass der Ballon herunterkam, vertraute mir mein Vater plötzlich sein Allerheiligstes an. Anscheinend hatte er in Gedanken schon sein Testament gemacht. „Hier“, sagte er, und schob seine Handgelenktasche zu mir rüber. „Den Inhalt teilst du dir mit deinen Schwestern.“

Während meine Eltern 150 Meter über mir schwebten, starrte ich die ganze Zeit auf die Handgelenktasche vor mir. Es hätte mich schon interessiert, was mein Vater meinen Schwestern und mir hinterlassen würde. Aber wollte ich das jetzt schon wissen? Ich rührte die Tasche nicht an.

Als meine Eltern wieder abgereist waren, fiel mir ein, dass ich zu Hause ein äußerst luxuriöses Exemplar einer Handgelenktasche für Herren habe. Ich musste eine Weile überlegen, wo ich sie versteckt hatte. Ich fand sie schließlich in der Metallkiste, in der ich Schuhputzzeug aufbewahre. Mein Vater hatte sie vor Jahren meinem damaligen Freund zu Weihnachten geschenkt. Sie ist aus weichem Kalbsleder, stammt von einem italienischen Designer namens Renato Angi und war bestimmt nicht billig.

Der Wunsch meines Vaters nach einem Schwiegersohn mit Handgelenktasche ist bisher nicht in Erfüllung gegangen. Angeblich soll sie wieder in Mode kommen.

Ich lass mich überraschen.

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