: Erniedrigungen im Namen der Liebe
ENTDECKUNG Der Roman „Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging“ von Emmanuelle Bayamack-Tam
VON CAROLA EBELING
Es gibt eine großartige Autorin zu entdecken: Sie heißt Emmanuelle Bayamack-Tam, wurde 1966 in Marseille geboren und hat in Frankreich bereits acht Romane im renommierten Verlag P.O.L. veröffentlicht. Mehrfach wurde sie bereits ausgezeichnet. Ins Deutsche sind aber bisher nur drei ihrer Titel übersetzt worden. Dem Secession Verlag ist es zu verdanken, dass er die außergewöhnliche Literatur Bayamack-Tams seit 2011 dem hiesigen Publikum zugänglich macht und das auch in Zukunft vorhat.
„Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging“ lautet der Titel ihres neuen Romans, und dieser Ausruf Philomelas in den „Metamorphosen“ Ovids, den sie ihrem Vergewaltiger entgegenschleudert, bevor dieser ihr die Zunge herausschneidet, führt zur Ich-Erzählerin und Hauptfigur.
Es spricht Kim, eine wütende, scharfsichtige 20-Jährige, die aufbegehrt gegen die Amputation ihrer Lebenssinne und ihres Intellekts, gegen ihre Verkleinerung, gegen die Versuche, sie stumm zu halten. Sie erzählt die Geschichte ihrer Familie. Sie erzählt die Geschichte eines überwältigend schmerzhaften Verlusts, aber auch jene ihrer Revolte, ihrer nicht nur sexuellen Emanzipation.
Eltern ohne Verantwortung
Ihre Eltern setzen fünf Kinder in die Welt, ohne Verantwortung für sie übernehmen zu können. Zwischen willkürlichen Liebesattacken und grausamer Vernachlässigung wachsen die drei Schwestern und zwei Brüder auf.
Über den Vater heißt es: „Er hat das geistige Alter eines Zehnjährigen, wie auch seine Frau. Sie haben Kinder bekommen, ohne zu wissen, warum. Er hat versucht, Vater zu sein, doch hat das zu viel Mühe erfordert, zu viel Beständigkeit. Er hat auf halber Strecke aufgegeben, das ist alles.“ Dies ist das Umfeld, in das Bayamack-Tam ihre Figuren stellt, um sodann aus dem Vollen des Lebens zu schöpfen: tief hinabzusteigen in dessen Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten und doch die Momente des Aufbegehrens und die Bedeutsamkeit der eigenen Wünsche zu beschwören.
Bayamack-Tams Sprache ist dabei elegant, vulgär, poetisch, treibt ins Groteske und erschütternd Komische. Es ist eine hochliterarische Sprache, die zugleich berührt und es vermag, das Innerste der Figuren nach außen zu kehren.
Wenn Kim die Hatz der Mitschüler auf ihren rothaarigen, blassen jüngeren Bruder beschreibt; wenn das Buch schließlich in seiner Mitte auf den größten Schmerzpunkt zuläuft, auf einen Selbstmord, dann ist das von einer unendlichen Traurigkeit.
Der Roman folgt keinem klassischen Plot. Kims aufrührende Stimme aber führt durch ihn hindurch und richtet den Blick auf ganz vielfältige Szenerien und Motive: Neben den bereits hier aufscheinenden ist ein wichtiges Thema Bayamack-Tams die Uneindeutigkeit der Sexualität. Über ihre Hauptfigur sagte sie in einem Zeitungsinterview: „Sie liebt, wen sie kann, wann sie kann“, und so nehmen die sexuelle Entwicklung und die Lieben Kims einen großen Raum ein. Auch hinterfragt die Autorin geschlechtliche Zuschreibungen scharf. In dem 2011 erschienenen Roman „Die Prinzessin von.“, in dem es um die Transsexuelle Marie-Line geht, sind diese Aspekte noch zentraler.
Die Vielfalt der Motive, die hier nicht alle aufgeführt werden können, führt keinesfalls zu einer Überladung des Romans; es stellt sich im Gegenteil das seltene Gefühl ein, einer Autorin begegnet zu sein, die aus der Fülle genauer Beobachtungsgabe, feiner Empathie, eigener Lebensklugheit und auch Wut schöpft.
Lyrik als Selbstbehauptung
Und so wirkt es glaubhaft, wie Kim die Lyrik Baudelaires und andere Literatur für sich entdeckt, wie die Poesie zu einem Mittel ihrer Selbstbehauptung wird. Unaufdringlich-elegant baut die Autorin Zitate und Verweise ein, die den Text wie bunte Flicken durchsetzen und verknüpfen – ohne dass man alle Stellen erkennen müsste.
Doch gibt es etwas wie ein Herz des Buchs. In ihm geht es um die Beschädigungen der Menschen, meist sind es AußenseiterInnen; um die Erniedrigungen, die oft im Namen der Liebe zugefügt werden – und es geht um die Gegenidee: um eine Schule der Liebe, die nicht die Verkleinerung des anderen wünscht, um dadurch selbst zu wachsen.
Die Haltlosigkeit ihrer Figuren ist radikal, und manche sind ihr ausgeliefert– aber Bayamack-Tams Literatur weckt den aufrührerischen Geist, plädiert für Anteilnahme, schärft den Möglichkeitssinn und öffnet den Blick immer wieder für eine Schönheit, die nicht allzu offensichtlich ist.
■ Emmanuelle Bayamack-Tam: „Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging“. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac. Secession Verlag, Zürich 2014, 345 Seiten, 24,95 Euro