: BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER Weißkohleintopf an Beamten mit Motivkrawatten
Natalie Tenbergs Gastrokritik: Kann man in der Kantine des Finanzamts Vorurteile in Genuss umwandeln? Hm, es gibt Hackbraten mit Soße
Ins örtliche Finanzamt gehen nur Menschen mit starken Nerven. Wie stark also müssen die Nerven derer sein, die freiwillig in der Kantine des Finanzamts zu Mittag essen! Denkt man.
Die graue Front des Finanzamts Berlin-Charlottenburg an der Bismarckstraße nährt die bestehenden Vorurteile. Sie ist, selbst auf dieser viel befahrenen Ausfallstraße, ein ästhetischer Tiefschlag. Wer sich davon aber nicht abschrecken lässt, der wird beim ersten Kontakt überrascht. Die Pförtner sind freundlich und weisen gerne den Weg zur Kantine im 4. Stock. Im Aufzug hängt ein Plan, auf dem die ganze Woche kulinarisch zusammengefasst ist. Deftiges deutsches Essen, wohl aber täglich mit einer vegetarischen Alternative.
Der Kantinenraum sieht aus, als sei er einmal in ein beiges Bad getaucht worden. Beiger Linoleumboden, beige Wände, links eine Selbstbedienungstheke, rechts eine Fensterfront, künstlicher Efeu an einer Trennwand. Gegen dieses Lokal sieht die Kantine bei Strombergs Capitol Versicherungen aus wie ein Drei-Sterne-Designrestaurant. Bunte Tischdecken und Kunstblumen auf den Tischen schaffen es, den Charme einer ramponierte Kantine in einem deutschen Amt noch zu verstärken.
Das leicht verfallene Äußere der Kantine steht, man wundert und freut sich, im krassen Gegensatz zur Freundlichkeit der am Selbstbedienungstresen arbeitenden Menschen. Höflich wird gefragt, ob es der Hackbraten oder der Weißkohleintopf sein darf, und siehe da, selbst im Finanzamt hat man ein Lächeln für den Gast übrig! Beim Kassieren wird einem noch freundlich „Mahlzeit!“ gewünscht, aber alles andere wäre ja auch enttäuschend gewesen.
Der Hackbraten mit brauner Soße schmeckt nach deftigem urdeutschem Hausrezept, was dem Curry-verwöhnten Durchschnittsgaumen exotisch erscheint. Der Weißkohleintopf kommt bei den Gästen so gut an, dass immer wieder Beamte, leicht an den bunten Hemden und den lustigen Motivkrawatten zu erkennen, ihn sich in Tupperdosen abfüllen lassen. Für später oder zu Hause.
Aber nicht nur Beamte sitzen in der Kantine, viele alte Rentner aus der Nachbarschaft essen hier regelmäßig. Die sind nicht nur nervenstark, sondern auch renitent. Trotz der Nichtraucher-Zeichen zündet sich eine alte Dame eine Zigarette an – und niemand beschwert sich. Nein, vor den Beamten in diesem Finanzamt braucht man sich nicht zu fürchten. Wenn es das nächste Mal hakt mit der Steuererklärung, einfach hingehen.
KANTINE IM FINANZAMT CHARLOTTENBURG, Bismarckstr. 48, 10627 Berlin, (0 30) 9 02 41 39 90, U-Bahn Bismarckstraße, 7.30–15 Uhr, warme Küche 11.30–14.30, Cola 1 €, Suppe 1,10 €, Hauptgerichte ab 2,40 €, Eis ab 0,40 €. Geöffnet: Montag bis Freitag