: Freihandel gegen Sozialstaat
TTIP US-Konzerne könnten Deutschland wegen Wettbewerbsnachteilen infolge der erheblich höheren Sozialversicherungsbeiträge verklagen
■ Promovierte Volkswirtschaftlerin, war bis 2006 stellvertretende DGB-Vorsitzende und saß bis 2009 im SPD-Vorstand. An dieser Stelle kritisierte sie zuletzt die SPD, weil diese bei der Rente die Jüngeren zu sehr belaste.
Bei den Verhandlungen zwischen EU-Kommission und US-Regierung über das Transatlantische Freihandels- und Investitionsabkommen (TTIP) stehen alle Regulierungen auf dem Prüfstand, die Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft haben. Nach jetzt sechs Verhandlungsrunden gewinnt die Kritik an den Verfahren hinter verschlossenen Türen an Lautstärke. Die öffentliche Empörung richtet sich besonders gegen das Übergewicht des Schutzes der ausländischen Investoren und die gesonderten Schiedsverfahren, die an den demokratischen Rechtswegen vorbeigehen. Im Fokus stehen dabei die Gefahren für Verbrauch, Umwelt- und Gesundheitsschutz, Bildung und Kultur.
Clash der Sicherungskulturen
Weitgehend ausgeblendet sind in den öffentlichen Kontroversen um TTIP die existenziellen Risiken für viele Menschen in „Old Europe“ durch die weitere Aushöhlung von Sozialstaat und sozialer Sicherung. Dabei sind die Gegensätze zwischen USA und Europa in kaum einem anderen Bereich so stark ausgeprägt wie bei der kollektiven solidarischen Sozialversicherung.
So ist die große Mehrheit der EU-Bürger auf die gesetzlichen über Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie Steuern finanzierten Sozialversicherungssysteme bei Alter, Gesundheit, Pflege und Arbeitslosigkeit angewiesen. Die Gewerkschaften und Arbeitgeber sind über die Selbstverwaltungen in allen Sozialversicherungssystemen an den wesentlichen Entscheidungen von Leistungen, Ausgaben, Organisation und personellen Spitzenbesetzungen maßgeblich beteiligt.
In den USA mangelt es nach wie vor an gesellschaftlicher Akzeptanz für einen derartigen finanziellen Solidarausgleich in umfassenden bundesweiten Sozialversicherungssystemen. Ein eindrucksvolles Beispiel sind die jahrelangen erbitterten Auseinandersetzungen über die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung unter Präsident Obama, obwohl bis dahin 46 Millionen Amerikaner ohne Krankenversicherungsschutz waren. Mit der „Obama Care“ wurde erstmalig eine Versicherungspflicht in den USA eingeführt, die bekanntlich von den solidarischen Pflichtversicherungen in der EU und insbesondere der Bundesrepublik weit entfernt sind.
Traditionell haben in den USA die private und betriebliche Vorsorge über kapitalgedeckte Sicherungssysteme in der Gesundheitsversorgung sowie der Alterssicherung eine vorherrschende Rolle.
Darüber hinaus gibt es verschiedene Programme der Gesundheitsversorgung für Ältere und finanziell Schwache sowie bei Arbeitslosigkeit und Armut, die von Bund und Einzelstaaten gemeinsam finanziert werden. So ist der Anteil von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen am Bruttoinlandsprodukt in den USA um etwa die Hälfte niedriger als zum Beispiel in der Bundesrepublik, die im EU-Vergleich einen mittleren Platz einnimmt. Die Gefahr ist deshalb groß, dass US-Konzerne den deutschen Staat wegen Wettbewerbsnachteilen infolge der erheblich höheren Sozialversicherungsbeiträge und damit auch ihrer Arbeitskosten über die gesonderten Schiedsverfahren verklagen und auch gewinnen.
Vorbei an den Rechtswegen
Die gerade beschlossenen Rentenreformen mit zusätzlichen Ausgaben von 10 Milliarden Euro sowie die von der Bundesregierung vorgeschlagene Erhöhung der Leistungen in der Pflegesicherung mit einem Anstieg der Beiträge um 0,5 Prozent könnten ebenso wie die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes konkrete Anlässe für die Einleitung derartiger Klagen an den regulären Rechtswegen vorbei sein. Die gesetzliche Krankenversicherung befürchtet Klageverfahren von US-Investoren gegen Patentschutz, Preisregulierung und Verschreibungspflicht von Arzneimitteln oder Warnung vor Gesundheitsschädigung zum Beispiel des Rauchens. Dies bedeutet nicht nur eine Gefährdung der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern auch der Patientensicherheit.
Es bleibt die entscheidende Frage, ob die seit Bekanntwerden des Investitionsschutzabkommens und der Schiedsverfahren eskalierende öffentliche Empörung in wirksame Gegenwehr umgesetzt werden kann. Dabei mangelt es nicht an Initiativen der Globalisierungskritiker, wobei der Protest-Funke allerdings bisher nicht überzuspringen vermochte. Vor allem haben sich die kampferprobten Gewerkschaften bislang weitgehend auf kritische Stellungnahmen und Aufklärung beschränkt.
Allzu zahme Gewerkschaften
Das mag auch damit zusammenhängen, dass sie die Schaffung des Binnenmarktes zwischen der EU und den USA grundsätzlich unterstützen. Gleichzeitig fordern sie die Einbeziehung aller Stakeholder in die Verhandlungen und die Überwachung bei der praktischen Umsetzung der Abkommen sowie das Verbot jeglichen Abbaus von Arbeitnehmerrechten. Und sie verweisen auf die Einhaltung der Gewerkschaftsrechte, womit sich die USA besonders schwer tun.
Weitere Forderungen der Gewerkschaften sind: Öffentliche Dienste bei Bildung, Gesundheitsversorgung, Wasserversorgung, Postzustellung, öffentlichem Nahverkehr und Kultur sind vollständig aus den Verhandlungen zum TTIP herauszulassen. Ein Investitionsschutzabkommen zwischen der EU und den USA wird zwar als unnötig erachtet, jedoch nicht ausgeschlossen. Allerdings müsse in jedem Fall die Aushöhlung der demokratischen Rechtsstrukturen durch private Schiedsverfahren verhindert werden.
Die Gewerkschaften müssen erkennen, dass ihre Forderungen ungehört verhallen werden, wenn sie sich nicht auch jetzt wieder an die Spitze der Bewegung stellen, wie 2006 bei der Verhinderung von Lohndumping bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen, so wie sie die damalige „Bolkestein-Richtlinie“ vorsah.
Dies kann für 500 Millionen Bürger und Bürgerinnen in der EU zu einem bitteren Erwachen führen, insbesondere wenn Renten, Gesundheitsversorgung oder Arbeitslosenversicherung von den Schiedsgerichten „aufs Korn genommen“ werden. Die Zukunft von Sozialstaat und Demokratie ist nämlich mehr wert als der weltgrößte Binnenmarkt. URSULA ENGELEN-KEFER