: New Labour – altes Großbritannien
Großbritanniens Labour-Partei schwimmt auf einer Erfolgswelle. Sie führt in allen Umfragen und kann souverän auf den Wahlsieg warten. Erreicht hat sie das mit der Hinwendung zu einer autoritären Gemeinschaftsideologie ■ Von Dominic Johnson
Als der Pepsi-Konzern vor zwei Monaten in Großbritannien eine neue Werbekampagne begann, ging es vor allem um einen Farbwechsel. Statt in ordinärem Rot wie der Konkurrent Coca-Cola prangte der Pepsi-Schriftzug nun in seriösem Tiefblau. Change The Script lautete dazu die Parole – etwa: Neues Drehbuch. Illustriert wurde der Wechsel „Blau statt Rot“ mit, zum Beispiel, blauen Erdbeeren. Oder auch einer Anstecknadel der „roten“ Labour- Partei – im Tory-Blau.
Zur gleichen Zeit machte Labour-Vizeführer John Prescott, ein bulliger Gewerkschafter und Verkörperung des alten proletarischen Ethos innerhalb der Parteiführung, von sich mit der Bemerkung reden, er gehöre zur Mittelklasse wie alle seine Kollegen in der Labour-Parlamentsfraktion. Und die Sunday Times meldete, das Durchschnittseinkommen der Labour- Parteimitglieder sei nun höher als das der Konservativen.
Die altlinke, ewig erfolglose Labour-Partei der Thatcher-Ära ist nicht mehr wiederzuerkennen, seit Tony Blair am 21. Juli 1994 nach dem Tod des Vorgängers John Smith den Vorsitz übernahm. Nach vier Niederlagen hintereinander scheint die Machtübernahme nach den Mai 1997 fälligen Parlamentswahlen sicher. Seit Herbst 1994 liegt Labour in allen Meinungsumfragen weit vor den regierenden Konservativen unter John Major. Die hatten zuvor die Steuern massiv erhöht und damit ihre Wahlversprechen gebrochen; dazu kam der Verfall des traditionellen britischen Respekts für ehrwürdige Institutionen wie Königshaus und Parlament.
Das diffuse Krisengefühl, das bei Blairs Amtsantritt in Großbritannien herrschte, hat am besten der linksliberale Wirtschaftsjournalist Will Hutton eingefangen, dessen 1994 recherchiertes Buch The State We're In („Der Zustand, in dem wir sind“) nach seinem Erscheinen 1995 sofort zum Bestseller avancierte und in über 125.000 Exemplaren verkauft worden ist. Huttons Buch war eine Anklage gegen die Krise Großbritanniens – ein Land „im wirtschaftlichen und sozialen Zerfall“, in dem „das Gefühl, einem erfolgreichen nationalen Projekt anzugehören, so gut wie verschwunden ist“, in dem „die ganze insitutionelle Struktur versagt“ und das nur noch durch „fundamentale Amoralität“ zusammengehalten werde.
Verantwortlich dafür seien jahrhundertealte Fehlentwicklungen, die auch durch Thatchers Reformen nicht behoben worden seien: das Streben der britischen Elite nach einem aristokratischen Lebensstil, der die moderne Arbeitswelt verachte und sich nur um schnellen Profit kümmere. Dabei würden die Atomisierung der Gesellschaft, die Unzulänglichkeit öffentlicher Institutionen und wirtschaftliche Ineffizienz in Kauf genommen. Das Ergebnis: wachsende Verarmung des unteren Drittels der Gesellschaft mit all ihren negativen sozialen Folgen. Nötig seien daher eine Generalüberholung des politischen Systems und eine „neue Moralökonomie“, um in die Wirtschaftsordnung das Gefühl für soziale Verantwortung einzuführen.
Huttons Buch systematisiert nicht nur die Unzufriedenheit vieler Briten mit ihrem Land; es markiert auch die Versöhnung der britischen Linken, die länger als jede andere westeuropäische Linke der marxistischen Wirtschaftslehre treu geblieben war, mit dem Kapitalismus. Die Verknüpfung dieser beiden Momente charakterisiert auch das Handeln Tony Blairs. Es war wohl Blairs historisches Glück, daß er sein Amt antrat, als die britische Gesellschaftsordnung genauso veraltet erschien wie die britische Labour-Partei. So bot sich ihm die Gelegenheit, die Modernisierung des einen als Pendant zur Reform des anderen darzustellen.
Er begann dies mit einem Frontalangriff: die Abschaffung der sogenannten Clause Four der noch aus der Jahrhundertwende stammenden Labour-Statuten, in der von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel die Rede ist. Ein Sonderparteitag im April 1995, dem ein Winter heftiger Debatte voranging, beschloß eine neue Klausel – für Blair ein historischer Sieg über den alten Parteiapparat, der seitdem nie wieder gewagt hat, die Führung herauszufordern. Danach war es für Blair kein Problem mehr, sich mit einem loyalen Schattenkabinett zu umgeben und die Partei so umzustrukturieren, daß sie nicht mehr politischer Arm der Gewerkschaften ist, sondern eine Massenpartei.
Im Oktober 1995 konnte Blair die Modernisierung von Labour als vollendet präsentieren. New Labour – New Britain hieß die Parole dieses Jahresparteitages, der den Schritt von der Reform der Partei hin zum Anspruch einer Reform der gesamten Gesellschaft darstellen sollte.
Worum es dabei geht, zeigt die neue Clause Four von 1995 – Blairs erste Programmerklärung als Chef, mit aller Labour-typischen rhetorischen Schnörkelei. Ihre ersten beiden Sätze lauten: „Die Labour-Partei ist eine demokratische sozialistische Partei. Sie glaubt, daß wir durch die Stärke unserer gemeinschaftlichen Anstrengungen mehr erreichen als allein, so daß wir für jeden einzelnen von uns die Mittel zur Verwirklichung unseres wahren Potentials schaffen und für uns alle eine Gemeinschaft, in der Macht, Reichtum und Chancen in den Händen der vielen und nicht der wenigen liegen, wo die Rechte, die wir genießen, die Pflichten widerspiegeln, die wir schulden, und wo wir in Freiheit und in einem Geist der Solidarität, der Toleranz und des Respekts zusammenleben.“
Man kann das auch einfacher ausdrücken. „Wir sind die Partei der Gemeinschaft“, sagte Blair in seiner Parteitagsrede 1994. Der Fehler der „alten“ Labour-Partei, so Blair kürzlich in einem Zeitungsartikel, habe darin bestanden, auf den Staat zu setzen. Jetzt gehe es um den Menschen. „Und ich glaube, der einzelne fährt am besten in einer ehrlichen und starken Gemeinschaft.“ Labour, so der immer wiederkehrende Grundgedanke, ist die Partei ehrlicher einfacher Familien gegen die selbstsüchtige Elite. „Sozialismus“ hatte der Labour-Chef 1994 gesagt, als er dieses Wort noch in den Mund nahm, „muß auf Verdienst und harter Arbeit aufbauen.“
Mit solchen Formulierungen übernimmt Blair bewußt das Gedankengut des US-amerikanischen Kommunitarismus. Dieser begreift die Krise der modernen Gesellschaft als Ergebnis überbordender Individualisierung – je nach politischer Neigung ist damit die ungezügelte Marktwirtschaft oder die gesellschaftliche Ausschweifung der Nach-68-Ära gemeint. Die Gesundung, so die Folgerung, besteht darin, die Entfaltung des einzelnen gemeinschaftlichen Werten unterzuordnen. Nicht Freiheitsrechte, sondern moralische Tugenden sind für Kommunitaristen die Grundbausteine einer funktionierenden Gesellschaft.
Was das in der Praxis bedeutet, haben die beiden hochrangigen Blair-Berater Peter Mandelson und Roger Liddle dieses Jahr in einem Buch ausgedrückt, das mit dem Titel The Blair Revolution die bisher präziseste Formulierung der neuen Labour-Ideologie darstellt. Sie lassen bewußt die Vergangenheit ihrer Partei hinter sich und sprechen nicht von Labour, sondern nur von New Labour. Herzstück von New Labour ist ein „robuster und aktiver Gemeinschaftsbegriff“, der „mehr ist als eine individuelle Verpflichtung, nett, liebevoll und großzügig zu sein“. Sowohl für Unternehmer auf dem freien Markt wie auch für Staatsbürger gingen Rechte mit präzisen Pflichten einher.
„Sobald wir diesen Gemeinschaftsbegriff ausführen“, fahren Mandelson und Liddle fort, „wird sofort klar, wer die Feinde von New Labour sind. Es sind die Unverantwortlichen, die die Gefühle der Gemeinschaft ignorieren. Es sind die etablierten Interessen, die wollen, daß Entscheidungen zu ihrem eigenen Nutzen und nicht dem der Gesamtgemeinschaft getroffen werden. Es sind die Ineffizienten, die die Gemeinschaft enttäuschen und ihren Fortschritt behindern. Und es sind die Verantwortungslosen, die ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Familien und damit ihrer Gemeinschaft nicht nachkommen.“
Was aber folgt daraus? Was wird Labour machen, wenn es an der Macht ist? Ein Teil der Überlegungen dazu ist vom Abgrenzungsbedarf gegen die Labour-Vergangenheit geprägt: keine Versprechen höherer Staatsausgaben mit den dazugehörigen Andeutungen höherer Steuern; keine Rede ist mehr davon, die Thatcher-Reformen – beispielsweise die Beschneidung des Streikrechts oder die vielen Privatisierungen – rückgängig zu machen.
Der andere Teil – der aus der neuen kommunitaristischen Philosophie folgen müßte – bewegt sich daher naturgemäß in engen ökonomischen Grenzen. Zum „starken Gemeinschaftsbegriff“ gehört zum Beispiel, das Bildungswesen zu verbessern und in gemeinschaftliche Dienstleistungen zu investieren. Wie das gehen soll, wenn Steuer- und Ausgabenerhöhungen ausgeschlossen sind, bleibt unklar. Labours Rezept scheint darin zu bestehen, die moralische Erneuerung der Gesellschaft als Alternative zum Geldausgeben darzustellen. Der Labour-Sprecher für Soziales, Chris Smith, wetterte kürzlich öffentlich gegen „diejenigen, die meinen, es sei irgendwie eine Aufgabe der politischen Linken, mehr Geld für Wohlfahrt auszugeben“.
In der Praxis nimmt sich das reichlich prosaisch an. So will Labour allen unter 25 einen Arbeitsplatz anbieten. Erreicht werden soll das durch Steueranreize für Unternehmen und Direktzuschüsse für Jugendliche, die bereit sind, in Wohltätigkeitsvereinen oder im Umweltschutz zu arbeiten. Bezahlt werden soll es mit einer einmaligen Sondersteuer auf die Profite privatisierter Staatsbetriebe, die der Gemeinschaft dienen – zum Beispiel Strom-, Gas- und Wasserlieferanten.
Daß das im Licht der grandiosen Blair-Gemeinschaftsphilosophie etwas fade aussieht, hat Labour Kritik eingebracht. „Der arme Junge“, überliefert die Zeitschrift The Economist einen Ausspruch von Premierminister Major über den 43jährigen Blair, „er hat ja nicht die geringste Ahnung, wie schwer das Regieren ist.“ Der linksliberale Kolumnist Ian Macwhirter warnte im November 1995, Blairs Politik drohe zum Appell an soziale Verantwortung zu verkommen: „Wenn man akzeptiert, daß es zum Kapitalismus keine praktische Alternative gibt, macht es keinen Sinn, Leute geringzuschätzen, die damit viel Geld verdienen ... Labour kommt der These gefährlich nahe, daß die Hauptaufgabe staatlicher Politik darin besteht, Hindernisse bei der Anhäufung privaten Wohlstandes aus dem Weg zu räumen.“
In Reaktion darauf versucht Labour jetzt, den Begriff der „robusten Gemeinschaft“ auf nichtökonomische Art zu unterfüttern. Hier zeichnet sich eine Spaltung zwischen der Gesellschaftskritik eines Hutton und dem Weg von New Labour ab. Hutton hatte das kapitalistische Unternehmen als Motor des gesellschaflichen Fortschritts gesehen: „Die Firma“, schrieb er, „ist nicht nur das Herz der Wirtschaft, sie liegt auch im Herzen der Gesellschaft. Sie ist der Ort, wo Menschen arbeiten und ihr Leben definieren.“ New Labour dagegen stellt an diesen privilegierten Platz die Familie: „Ich glaube an die Familie als Baustein einer guten Gemeinschaft“, schrieb kürzlich Tony Blair. „Sie gewährt die beste Ausbildung zum Staatsbürger.“
Die Folge davon ist, daß sich Labour jetzt weniger mit den Schwächen der britischen Privatwirtschaft als mit denen der Familie befaßt. Wichtig ist Labour dabei die Idee, daß die Erziehung nachwachsender Generationen keine Privatangelegenheit sein dürfe. In diesem Geist trat der Parteisprecher für Innenpolitik, Jack Straw, Anfang letzter Woche in die Fußstapfen Bill Clintons und schlug vor, britische Gemeinden sollten eine nächtliche Ausgangssperre für Kinder verhängen dürfen. Dies solle Gemeinden, Eltern und Polizei dazu bringen, über die richtige Art der Kindererziehung öffentlich zu diskutieren. Schon zuvor gab es aus Labour-Reihen den Vorschlag, Eltern „verantwortungsloser“ Kinder müßten Zwangsunterricht erhalten. Und Bildungssprecher David Blunkett schlug eine Rückkehr zum traditionellen Frontalunterricht in der Grundschule als Lösung für die britische Bildungsmisere vor.
„Das Land möchte etwas Neues,“ schrieb der enttäuschte Will Hutton vor kurzem über diese Labour-Wende; „aber es könnte statt dessen mehr vom Alten kriegen.“ Daß die Partei damit dennoch Applaus erntet, zeigt jedoch, wie konservativ die Aspirationen vor allem der englischen Mittelklasse geblieben sind. Sie mögen Labour wählen, reklamieren aber um so nachdrücklicher die englische Vorstellung vom Glück, die Jack Straw in den Satz gegossen hat: „Die erste Pflicht jeder Regierung sollte sein, die Leute in Ruhe zu lassen.“
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