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Einmal gucken für zwei Mark

Berlin, Potsdamer Platz, in diesem Sommer: Man baut, man schaut und weiß nicht recht, warum. Aber vor allem die Berliner kommen immer wieder  ■ Von Heide Platen

Im Bistro stehen die Paare am Fenster. Die Choreographie wiederholt sich monoton. Der Mann ist fasziniert. Er legt den rechten Arm, wie schützend vor dem Abgrund und der unermeßlichen Weite der Baustelle, um die Frau, streckt den linken Arm, die Hand, zuletzt den Zeigefinger aus, deutet großräumig und beschreibt dann genau das, was ohnehin zu sehen ist: Bagger, die baggern.

Die knallrote Schuhschachtel auf Stelzen heißt INFO BOX. Sie könnte auch auf dem Mond stehen oder im sibirischen Kohletagebau. Zwischen Kränen, auf zerwühlter Erde ziehen Lastwagen auf baumlosen Pisten Staubwolken hinter sich her. Der Container, in dem die Bauherren sich und Berlins neue Mitte repräsentieren, ist der Renner der Touristensaison. Nur das Brandenburger Tor besuchen noch mehr Menschen. Baustelle ist „Schaustelle“.

1995 kamen 1,8 Millionen Touristen nach Berlin, jeder zweite besuchte die Baustellen. Das Fremdenverkehrsmarketing „Partner für Berlin“ – Geschäftsführer ist der ehemalige Senator Volker Hassemer – zog dem unerwarteten Boom hinterher und bietet Führungen und Kunst am Bau an. Die Schaulustigen drängen sich vor allem auf dem Areal zwischen Tiergarten und Alexanderplatz, wo die privaten Investoren Daimler- Benz, Sony, A+T (ABB/Terreno- Roland Ernst) und die Bahn AG Büros, Ladengalerien, Kinos, Luxuswohnungen in den märkischen Sand setzen. 200 Meter Spree sind für die Bauzeit von Fern-, U-Bahn- und Straßentunnel 70 Meter nach Norden verlegt worden.

Um die Stelzen des Containers wirbeln Staubwolken, in der Luft liegt, herübergeweht von der Baustelle, leichter Latrinenduft. Die Massen gucken vom Dach des dreistöckigen Containers auf die größte innerstädtische Baustelle Europas, den Potsdamer Platz. Über 20.000 BesucherInnen sind es an den Wochenenden im Sommer, sagt die Leiterin der INFO BOX, Ariane Ribbeck. Die Box, 65,5 Meter lang und 23 Meter hoch, ist im Oktober 1995 eröffnet worden. Anfang Juli war die erste Besuchermillion beisammen.

Und was gibt es da zu sehen, geschweige denn zu fotografieren? Eben nicht, stellt sich auf der Dachterrasse heraus, die neuen Kräne, sondern die alte Erinnerung. Akribisch suchen Max und Johann, zwei bayerische Brüder aus München, das Gelände ab. Sie rekonstruieren die Reste der ehemaligen Staatsgrenze. Da lief sie lang, deutet Max weiträumig am Gropius-Bau vorbei. Und da im Norden, „das war auch schon der Osten“. Das Gedächtnis ist schwach. Als Schüler hat er von einer hölzernen Plattform über die Mauer geblickt. Eigentlich erkennt er gar nichts wieder.

Die BerlinerInnen müßten es besser wissen. Auch sie sind posthume Mauertouristen. Manche sind richtig enttäuscht: „Da sieht man ja jar nischt mehr.“

Die 2.200 Leuchtstoffröhren, die der Künstler Gerhard Merz an elf Kränen installiert hat, erhellen da auch nichts. Sie hängen tagsüber da wie überdimensionale Jalousien, leuchten abends kühl und sind Kunst am Neubau.

In der INFO BOX tönt und fiept und piept die Zukunft auf allen Etagen multimedial durcheinander: die Stimme des Kanzlers aus der einen Ecke, aus der anderen Rita Süssmuth, Helmut Schmidt, Konrad Adenauer, Musik, Tusch! Nebenan im Andenken-Shop klingeln die Spieluhren zuckersüß. Süssmuth war schon leibhaftig hier, der Kanzler bisher nur virtuell.

Die Telekom wirbt mit vier Geräten, die kostenlos „T-ONLINE“ in die „faszinierende Welt“ des Internet führen sollen. Eins ist ganz im Eimer, eins schlägt vor, die Taste „Ignorieren“ zu drücken und ignoriert, das dritte möchte gerne den nichtvorhandenen Drucker bedienen und hat sich deshalb aufgehängt. Am vierten steht seit einer geschlagenen Stunde ein Möchtegernerfolgsmensch und guckt sich die Börsenkurse an. Eine Jung-Userin hat trotzdem noch Hoffnung auf den Zugriff: „Da läuft irgendwo so ein Opa rum, der kann die Kisten wieder hochfahren.“

In der Warteschlange stehen on line vor allem StudentInnen an, die aus der Staatsbibliothek herübergekommen sind. Sie versprechen sich aus dem Gratisangebot Internet Hinweise auf weltweite Spezialliteratur „für umsonst“. Frau erklärt frau den Suchkatalog. Jutta tippt Mancinelli, Laura ein. Und findet im Schnupperangebot nichts über die italienische Schriftstellerin.

SchülerInnen suchen in der „Informations- und Erlebniswelt“ nach Computerspielen. Ihr Daten- Highway endet unweigerlich in der PR-Abteilung der Telekom. Vorstand Ron Sommer hält eine Rede. Ein Konzern lobt sich bei jedem Mouse-Klick selbst. Nichts wie weg! Hinter einer Säule versteckt sich der Monitor des Berliner Energieversorgungsunternehmens Bewag. Er zeigt ein Heizkraftwerk, niedlich wie eine Spielzeugdampfmaschine.

Bei Sony flimmert die 3D-Videographik ruckelnd durch die künftigen Gebäude, wahlweise zu Fuß, im Fahrstuhl oder Hubschrauber. Nebenan holt eine Panoramakamera den Blick von der Dachterrasse nach innen auf den Bildschirm: Autos fahren, Wolken ziehen, Kräne auch. Das fasziniert vor allem die Väter. Sohn Florian ist dem Gameboy entwachsen und mault: „Papa spielt schon wieder.“ Ariane Ribbeck bietet für solche Kinder Rätselspiele an, bei denen Stift und Papier benutzt werden dürfen.

Ute Böhr ist Studentin und führt an drei Tagen in der Woche BesucherInnen durch die Box. Die Fragen stellen vor allem die Männer. Ein Schwabe setzt auch gleich den Schildvortrieb, mit dem Betonröhren von 9 Metern Durchmesser in den Untergrund gegossen werden, in Relation zur Kanalisation seines Eigenheims: „Scho doll!“ Was das alles kostet, wollen die meisten dann noch wissen.

Was die Faszination einer Baustelle ausmacht? Ute Böhr weiß das auch nicht so genau. Aber sie habe den Eindruck, daß sich vor allem die Berliner „einbezogen fühlen“. Ariane Ribbeck hat sich ihre eigenen Gedanken gemacht, warum „Lärm und Dreck“ zur Attraktion geworden sind. Da werden, vermutet sie, „Kindheitsträume wahr“. Sie kann das nachvollziehen. Jeden Tag, sagt sie, blicke sie morgens eine halbe Stunde in die Baustelle „wie in ein romantisches Waldstück“. Eigentlich, findet sie, sei das ja „völlig absurd“, aber: „Das hat auch etwas Besinnliches.“ Da ist „Veränderung, Bewegung“. Auch menschliche Hybris? Ja, das wohl auch. Manche Besucher kommen täglich.

Im Raum von A+T steht das heftig umstrittene Modell des italienischen Architekten Giorgio Grassi, erratische rote Steinblöcke, schlicht und klotzig. Die Veranstalter nennen den Stil „zeitlos ruhig“ und von „urbaner Würde“. Der Ausstellungsraum ist vor allem wegen der Büsten der fünf beteiligten Architekten getadelt worden. Bei Augenschein sind die Männerköpfe weder aus Marmor noch monumental, sondern aus faserigem Japanpapier und eher fragil. Einer ist ganz verschwunden. Den meisten BerlinerInnen mißfallen die Grassi-Häuser: „Sieht ja aus wie Mietskasernen. Wer soll denn da bloß rinziehen? Ville ze teuer.“

Dafür ist der Eintritt in die INFO BOX umsonst. Nur der Blick von der Dachterrasse kostet zwei Mark. Vor der Treppe sitzt eine Gruppe italienischer StudentInnen und fragt sich lauthals, was sie an diesem tristen Ort an diesem warmen Sommertag eigentlich soll – „Cosa? Non mi piace!“ Was Sache ist, das hat sich auch ein US- Amerikaner gefragt. Er hatte in den Staaten immer von der Insellage Berlins gehört und geglaubt, es liege irgendwo in Rußland im Meer.

Die beiden rotweißen Strandkörbe unter dem Container neben dem Zelt-Bistro, da, wo es so gemütlich ist wie unter einer Autobahnbrücke, haben ihm nicht genügt. Und auch nicht das spektakuläre Wasserloch, das an die Grundmauern des Weinhauses Huth schwappt. Taucher betonieren von dort aus den Berliner Untergrund. Obenauf fährt ein Kahn. Auf dem stehen Bagger und baggern. Das Weinhaus, eines der drei am Platz erhaltenen alten Häuser, steht wie in einer meergrünen Lagune und ist über die Toppen geflaggt. Auf dem Dach weht die Fahne von Daimler Benz auf Hochmast. Deren Tochterfirma debis hat hier ihre Zentrale.

Rundrum ist Festland. Aber einen Inselbewohner gibt es doch auf der Baustelle. Der Imbißstand von Jörg Sowka ist mit hohen Zäunen abgesperrt. Kein Zugang, die Bude ist nur auf Schleichwegen zu erreichen. Hungrige und durstige Gäste mäandern ganz illegal durch die Metallzäune, stolpern über Stock und Stein, durch Johanniskraut und wilde Löwenmäulchen. Seit dem 1. August ist das Tor im Zaun, der seine Bude und die INFO BOX trennt, geschlossen. Er fühlt sich exterritorial. Dabei hat er gerade erst einen Brief vom Bezirksamt bekommen, der ihm den Betrieb seines Kleinunternehmens gegen eine Gebühr von 66 Mark gestattet.

Die Bauarbeiter halten ihrer „Ballerbude“ trotz der Umwege die Treue. Das, vermutet Sowka, sei den Bauherren schon zu viel Außenkontakt der in Containern untergebrachten Baubrigaden: „Die nehmen kein Blatt vor den Mund über Dumpinglöhne und Arbeitsbedingungen.“ Die Zäune, hätten auch etwas mit der Konkurrenz der Gastronomie im und unter dem Container zu tun. Außerdem stecke, vermutet Sowka, Sony dahinter. Um das Gelände, auf dem seine Bude steht, wurde zwischen dem Konzern und dem Verband der Konsumgenossenschaften gestritten. Der Verband hatte Sowka das Gelände erst verpachtet und dann überraschend zum 1. August gekündigt.

Da sitze aber inzwischen, so Sowka, ein Sony-Mann im Aufsichtsrat. Vielleicht hat den jenes Reststück des antiimperialistischen Schutzwalls gestört, das gleich vor dem Imbiß aufgebaut ist. „SoNIE“ steht darauf.

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