Agenda 2010 : Das Mindeste ist Respekt
Wer zu lebzeit gut auf erden Wird nach dem tod ein engel werden Den blick gen himmel fragst du dann Warum man sie nicht sehen kann (Rammstein)
Da saß ich nun ich armer Tor! Auf dem grellen Podium in der kommenden Europäischen Kulturhauptstadt Dortmund. Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel. Dafür ist mir auch alle Freud entrissen. Blinzel in die Menge. Ein deutscher Jäger tobt im Publikum. Verdammt. Schreckliches Gesicht! Wie alles sich zum Ganzen webt und sich die braunen Eimer reichen! Faust. Scheiße. Blutiges Gesicht. Die Jagd beginnt. Zwei wilde „Männer“ wühlen sich in das Gedärm dessen, was sie unter Kunst verstehen und aus dem immer wieder zischend der deutsche Geist entweicht.
Was ist passiert? Nun, die Goethes „Faust“-Inszenierung von Thirza Bruncken am Dortmunder Theater rief die Bewahrer der „wahren“ deutschen Kultur auf den Plan und die sind eben nicht nur respektlos gegenüber der Regisseurin. Nein, sie trampeln erst im laufenden Stück das Recht der anderen zahlenden Zuschauer mit Füßen, sich selbst ein Urteil über den Abend zu bilden. Im Publikumsgespräch danach wird alles mit verbalem Kot beworfen, was nicht gleicher Meinung ist. Des Volkes Stimme, die einst Bücher zum Brennen brachte, zündelt nun an den Bühnen. Der Satz: „Sie machen Theater nicht nur für sich selbst“, war noch der harmloseste. Ein Trauerspiel.
Wandel durch Kultur. Kultur durch Wandel. Das Kulturhauptstadt-Motto muss nun herhalten. In gerade mal drei Jahren wollen wir der Welt da draußen zeigen, wie weit wir den Strukturwandel im Ruhrgebiet mit Kreativwirtschaft vorangebracht haben. Innovative Ideen sind da gefragt. Auch bei den Bühnen zwischen Ruhr und Emscher. Die Reduktion auf deutsche Zentralabitur-Themen wird das nicht sein können und auch nicht das Ducken unter Volkes Stimme. Die Veranstaltung am Dortmunder Theater war ein erschütterndes Indiz dafür, wie immer noch mit Kunst umgegangen wird. Forderungen nach Absetzung von unbequemen Inszenierungen, die Hatz auf unbequeme Künstler und Titelzeilen in Zeitungen wie „Was soll dieses Ekel-Theater“ – dem muss entschieden entgegen getreten werden. Unabhängig davon, ob Goethes „Faust“ von Frau Bruncken in Dortmund gelungen ist oder nicht – eine Diskussion über Kunst und Kultur auf diesem Niveau sollten wir uns nicht leisten: Das Unzulängliche, Hier wird‘s Ereignis. Das Unbeschreibliche, hier ist‘s getan. Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.
PETER ORTMANN