Wer vom Sparpaket erschlagen wird

Wenn heute im Bundestag die Abgeordneten der Koalition ihre Sparmaßnahmen beschließen, dann machen sie damit vielen Menschen das Leben noch schwerer: Eine Frau, die sich bei der Arbeit den Rücken kaputtgemacht hat, muß dafür Lohneinbußen hinnehmen, eine Verkäuferin verliert ihren Kündigungsschutz, und für Kinder ist erst recht kein Geld mehr da.

Was haben Landwirtschaftsminister Jochen Borchert und die Berlinerin Petra Sperling gemeinsam? Beide haben's an der Bandscheibe und können nicht arbeiten. Doch wenn der CDU-Abgeordnete heute in den Bundestag humpelt und für die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall stimmt, wird Petra Sperling ärmer. Denn der Tarifvertrag für den Berliner Einzelhandel sieht für die Lohnfortzahlung die gesetzliche Regelung vor. Der Minister kassiert während seiner Genesung die volle Apanage. Die Verkäuferin bangt um ihr Einkommen.

Auf Urlaubstage oder Einkommen verzichten

Wenn nur die verschlissene Bandscheibe nicht wäre, derentwegen sie wieder und wieder krank geschrieben wird. Demnächst muß sie wählen: entweder je fünf Tage Krankheit mit einem Urlaubstag ausgleichen oder eine Lohneinbuße von 20 Prozent hinnehmen. Die beiden Wochen, die sie jetzt krank ist, würden 110 Mark weniger bedeuten.

Die Sperlings gehören keineswegs zu den Armen. Der 22-Stunden-Job bei Aldi bringt 1.100 Mark im Monat, ihr Mann Peter verdient netto 3.000 Mark. Mit dem Kindergeld für die beiden Töchter und einer Halbwaisenrente für die eine Tochter aus erster Ehe kommen sie auf ein Familieneinkommen von 4.700 Mark. Nach Abzug aller laufenden Kosten einschließlich Miete, Versicherugnen, Kreditraten und Gewerkschaftsbeiträgen bleiben 1.843 Mark zum Leben: wöchentlich rund 115 Mark pro Person für Essen, Reinigungsmittel, Kleidung und Kinokarten.

Die Einbuße entspricht dem Wochenetat eines Familienmitglieds. „Soll ich kein Gemüse mehr kaufen, kein Obst oder den Kindern Schokolade und Kino verbieten, wenn ich krank bin?“ Petra Sperling kräuselt die Nase: „Ich hab mir mein Bandscheibenleiden im Beruf geholt, und ich seh' nicht ein, daß jetzt auch noch die Zeche dafür zahlen soll!“

Seit zwölf Jahren wuchtet sie bei Aldi die Paletten ins Regal: 24 Dosen Ananas – 15 Kilo schwer –, zwölf Büchsen Erbsen, 24 Konserven Pfirische. Täglich packen drei Frauen Dutzende von Paletten weg. Die schwere körperliche Arbeit hat sie im Laufe der Zeit krank gemacht: „Zuerst spürte ich nur hin und wieder ein Reißen, und manchmal, beim Aufstehen, war mir der Rücken schwer wie ein Brett.“ Typische Beschwerden einer Verkäuferin. Richtig Angst bekam Petra Sperling im vergangenen Jahr. „Da krachte es eines Morgens in der Wirbelsäule.“ Der Arzt attestierte einen beginnenden Bandscheibenvorfall. Zehn Monate war sie krank geschrieben und bezog 80 Prozent ihres Lohn als Krankengeld. Künftig wird auch dies um weitere zehn Prozent gekürzt.

Als Petra Sperling im Februar aus der Kur zurückkam, wußte sie: „Der Rücken ist hin.“ Linderung, hatte man ihr gesagt, würden Massagen bringen. Und alle zwei Jahre eine Kur. „Wenn ich dank des Sparpakets demnächst 25 Mark am Tag zuschießen muß, werde ich sie mir kaum noch leisten können.“ Zusätzlich müßte sie sich noch zwei Urlaubstage pro Woche anrechnen lassen. „Wo bleibt dann noch Zeit für die Familie?“

Das Sparpaket macht sie verdammt wütend, ebenso wie die Ignoranz der Politiker. „Wenn die wenigstens mit einem Beispiel vorangehen würden, mal selber 'ne Nullrunde einlegen oder sich den Umzug nach Berlin nicht mit Vergünstigungen versüßen, dann würde die kleine Frau von der Straße vielleicht eher bereit sein, zu verzichten.“ Weil sie es nicht tun, bleibt das Sparpaket für Petra Sperling nur eine einzige große Fehlentscheidung. Die Debatte heute guckt sich sich im Fernsehen an: „Ich will hören, wie sie ihre Bankrotterklärung schönreden.“ Annette Rogalla

Andrea Müller hatte „eigentlich schon im Gefühl, daß die die Erhöhung des Kindergelds verschieben“. Die 37jährige Mutter, die mit ihrem Mann und ihren Kindern Charlotte (7), Friederike (5) und Peter (anderthalb) in Berlin-Charlottenburg wohnt, hätte das auch gar nicht so schlimm gefunden, „wenn alle zurückstecken würden, damit der Standort Deutschland gewahrt bleibt. Die Privilegierten aber, die Beamten und Halbverbeamteten zum Beispiel, die brauchen nicht zu sparen.“ Und zu den Privilegierten gehören die Müllers nun mal nicht: Er ist Organisationsentwickler und schult die Mitarbeiter der Deutschen Telefonwerke DeTeWe mit „Fit For Tomorrow“-Programmen für die harte Konkurrenz im Wirtschaftsstandort Deutschland, sie ist derzeit – mehr oder weniger freiwillig – Hausfrau. Andrea Müllers Meinung über die Politiker ist nicht besonders freundlich: „Was die sagen, glaube ich grundsätzlich nicht – vielleicht noch am ehesten den Grünen. Die werden für vier Jahre gewählt, was danach kommt, interessiert sie nicht. Vielleicht würde sich etwas ändern, wenn sie verpflichtet würden, zwanzig Jahre lang für das geradezustehen, was sie getan haben. Am besten, man kürzt ihnen das Einkommen, wenn sich ihre Politik als erfolglos erweist.“

Familien mit Kindern haben immer das Nachsehen

Besonders sauer ist die gelernte Informationselektronikerin darüber, daß Familien mit Kindern sowenig gefördert werden. „Weil ich verheiratet bin, habe ich für Friederike keinen Platz in einer staatlichen Kita gekriegt. Und wenn Peter mit drei Jahren in den Kindergarten kommt, dann nur fünf Stunden pro Tag, eine längere Betreuungszeit haben sie mir nicht zugestanden. Wie soll ich unter diesen Umständen einen Job finden?“

Vor allem die Kinder müßten unter der Sparpolitik leiden: „In Bonn kürzen sie das Kindergeld, in Berlin schließen sie die Betreuungseinrichtungen. Die Kinder und Jugendlichen lungern auf der Straße rum, rauchen und trinken. Das ist alles so kurz gedacht, in naher Zukunft wird sich das mit doppelten und dreifachen Kosten rächen.“ In der Schule ihrer Erstkläßlerin Charlotte, erzählt sie, „gibt es kein Geld mehr für Klopapier. Das muß man sich mal vorstellen. Die Eltern sind gezwungen, das selber mitzubringen.“ Die Schulstation, in der sozial auffällige Kinder betreut werden, werde geschlossen, weil die Stelle der Erziehungspädagogin gestrichen worden sei, „und jetzt haben wir viele Schlägereien im Pausenhof“.

Sparpolitik allerorten. Was das für die Gesundheitsversorgung bedeutet, hat Andrea Müller ebenfalls schon am eigenen Leibe verspürt: „Als ich kurz nach der Geburt meines Jüngsten krank im Bett lag und meine Kinder nicht mehr versorgen konnte, habe ich bei der Krankenkasse eine Haushaltshilfe beantragt. Die sagten mir: ,Sie sind verheiratet, Sie kriegen keine. Da warten wir mal ab, bis Sie im Krankenhaus sind.‘ Wortwörtlich.“ Ute Scheub

Doris Möller lebt in einem Schwebezustand. Seit 16 Jahren arbeitet sie in einem kleinen Lebensmittelladen im Norden Berlins. 22 Stunden pro Woche sitzt sie hinter der Kasse, drei Stunden bleiben ihr, um ihr Sortiment zu sichten und Bestellungen rauszugeben. Zuständig ist sie für die Regale mit Kaffee, Knäckebrot und Honig – „das ist mein Bereich“, sagt die 50jährige. Der Sohn ist erwachsen und längst aus dem Haus, der Ehemann arbeitet bei der Post. Eigentlich hatte sie sich darauf eingestellt, bis zur Rente durchzuarbeiten. „Lebensmittel verkaufen sich doch immer.“ Inzwischen ist sie nicht mehr sicher, wie ihre berufliche Zukunft aussehen wird.

Vor acht Jahren, als ihr Laden noch zur Berliner Kette Bolle gehörte, hatte Doris Möller 27 KollegInnen. Bolle machte dicht, der Laden wurde zunächst von Coop, später von der Metro übernommen. Mittlerweile hat Doris Möller nur noch 15 KollegInnen. Und deren Zukunft sieht nicht rosig aus. Seit März dieses Jahres gehört ihr Laden, ebenso wie 73 weitere Bolle-Märkte, zum Spar-Konzern.

„Franchising“ soll das Personalproblem lösen

„Franchising“ heißt das neue Schlagwort: Alle 74 Läden sollen an private Inhaber verkauft werden. Diese verpflichten sich, unter dem Label Spar nur Spar-Produkte zu verkaufen. Ein künftiger Kleinunternehmer ist also einerseits selbständig, andererseits völlig unselbständig. Geht es um den Einkauf, so gibt Spar vor, welche Produktpalette im Laden steht, geht es hingegen ums Management und um Personalfragen, entscheidet der Inhaber allein. Möllers Fazit: „Spar geht's darum, Personalkosten abzuwälzen.“ Bis Ende Februar nächsten Jahres sollen alle Läden abgewickelt sein. Für Doris Möller und ihre Kollegen wird das Folgen haben. Drei ihrer Kolleginnen gehen 1997 in Rente. Die drei Führungskräfte des Supermarkts werden wohl gehen müssen. Übrig blieben vier Vollzeit- und sechs Teilzeitkräfte: insgesamt also weniger als zehn volle Stellen. Damit entfiele – nach einer Frist von drei Jahren – jeglicher Kündigungsschutz für die Beschäftigten des Supermarkts. So sieht es jedenfalls die Neuregelung im Sparpaket der Regierung vor. Ein neuer Chef könnte Doris Möller nach der Dreijahresfrist jederzeit grundlos kündigen, sie hätte keine Möglichkeit, dagegen zu klagen. Die Kündigungsfrist, die bei Doris Möller inzwischen bei sieben Monaten liegt, müßte ein neuer Chef allerdings einhalten. Ihr Leben bleibt in der Schwebe. „Ich laß' das erst mal auf mich zukommen“, lautet ihre Devise. Zu Jahresbeginn war sie noch überzeugt, daß ein neuer Chef sie übernehmen müßte. „Aber mit dem neuen Sparpaket sieht das ja alles ganz anders aus.“ Kathrin Lohmann