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Ufos von Nordwesten

Wie konnte Grunge passieren? Und: Warum ausgerechnet in Seattle? Doug Prays Film „Hype!“ liefert viele Erklärungen und eine Geschichte  ■ Von Thomas Winkler

Irgendwann stehen die beiden nicht mehr ganz so jungen Herren, der eine mit einem dicken Bart, der andere ohne, auf dem Dach des Gebäudes, das die Büros ihrer inzwischen gar nicht mehr so kleinen Plattenfirma beherbergt, und der mit dem Bart wedelt mit dem Arm, die Kamera solle doch bitte mal über die Aussicht schwenken. Die hochmoderne, von einer freundlichen Sonne beschienene Skyline Seattles rückt ins Bild, und aus dem Off sagt einer der beiden: „Dafür sind wir verantwortlich.“

Das ist ein bißchen ironisch gemeint, aber dann auch wieder nicht völlig falsch. Die beiden Herren heißen Jonathan Poneman und Bruce Pavitt und sind die Gründer und Bosse von SubPop, dem Label, das der Welt die Schublade Grunge schenkte. Ein paar Fastkonkurse haben sie schon überstanden, aber vor allem sind sie dafür verantwortlich, daß Seattle für ein paar wilde Jahre von der internationalen Presse als Rockkapitale gefeiert wurde und seitdem mit dem massenhaften Zuzug von auf Entdeckung hoffenden Musikern kämpft. Zusammen mit der Computerindustrie sind sie dafür verantwortlich, daß Seattle zur hipsten Wohnadresse der Vereinigten Staaten wurde. Und ein wenig sind sie auch dafür verantwortlich, daß Seattle, glaubt man dem Rolling Stone, inzwischen Washington D.C. als Drogenhauptstadt der USA abgelöst hat.

„Hype!“ versucht zu ergründen, was da passiert ist, wie diese Stadt, für die sich zuvor niemand interessierte, eine solche Karriere machen konnte. Die Erklärungsversuche sind mal rührend, mal ironisch. Jack Endino, Produzent eines Großteils der Platten von Seattle-Bands, meint, es sei das feuchte Klima im Nordwesten: „Wenn es regnet, geht keiner gerne raus.“ Also lieber in den Keller und Musik gemacht.

Der Graphiker Art Chantry, verantwortlich für viele Plattencover und Plakate, glaubt, daß man in der Gegend schon immer anfällig für Okkultes und Kultisches war: „Die ersten fliegenden Untertassen wurden im Nordwesten gesichtet. Nirgendwo gibt es so viele Serienkiller wie hier. Die Manson Family hat hier Urlaub gemacht.“ Kurz gesagt: Es gibt keine logische Erklärung. Aber es gibt eine Geschichte. Und die erzählt „Hype!“. Von den ersten Anfängen, als sich kaum mal eine tourende Band in den Nordwesten verirrte. Von den kleinen Club-Gigs, bei denen ein begeistertes Publikum auf- und niederwallte. Von den vielen unbesungenen Bands, die sich lokale Berühmtheit erspielten, es aber nie über die Stadtgrenzen hinaus schafften. Es ist die ganz normale Provinzgeschichte, und was kann ein armer Junge schon tun, als in einer Rock'n'Roll-Band zu spielen: „Wir wurden in der Schule immer zusammengeschlagen“, grinst ein verschmitzter Van Connor, schwergewichtiger Gitarrist der Screaming Trees, „mit den hübschen Mädchen durfen wir nicht mal reden.“ Und immer wieder, als würden die Filmemacher doch nicht so recht daran glauben, daß an Seattle nichts Besonderes ist, die Aufnahmen von vor Bühnen wogenden und fliegenden, übereinanderliegenden, ineinanderverschlungenen, schwitzenden Leibern.

Doch dann kamen Poneman und Pavitt, bezahlten einem englischen Journalisten den Flug nach Seattle, und der bedankte sich mit einem frenetischen Artikel im Melody Maker: Die Rockcity Seattle war geboren. Dabei war doch eigentlich alles so einfach, erzählt Charles Peterson, der als Fan und Fotograf die Szene über die Jahre begleitete: „Wir waren halt gelangweilt. Wir besoffen uns und schmissen uns bei Konzerten in der Gegend rum.“

Und auch der Hype kam, und er ging wieder. „1990 dachten wir, Gott sei Dank ist alles vorbei.“ Und dann passierte 1991 „Smells Like Teen Spirit“. „Hype!“ würdigt diesen Wendepunkt mit einer wackeligen, verwaschenen Videoaufnahme von der allerersten Live-Aufführung des Songs. Und wieder fliegen die Leiber, aber fortan war die Welt nicht mehr dieselbe.

Das Fazit kommt von Produzent Steve Fisk, für den der Hype um Seattle nur ein weiteres Kapitel in der Marketinggeschichte der Plattenindustrie abgibt und sich so in die Reihe von Austin über Athens bis Minneapolis einreiht: „Wir waren nur ein Teil dieses Prozesses.“ Ein anderes Fazit liefern die vielleicht eindringlichsten Bilder dieser Dokumentation: Die Kamera fährt durch ein edles Kaufhaus, durch die dortige Grunge-Wear-Abteilung. Dazu läuft eine daddelige Muzak-Version von „Smells Like Teen Spirit“. Thomas Winkler

„Hype!“, USA 1996, Regie: Doug Pray, 83 Min., im Eiszeit

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