: Karlsruhe mit Hang zum Überhang
Verfassungsgericht bestätigt Bundeswahlgesetz, das der regierenden Union zuletzt 16 Überhangmandate bescherte. Auch am Einzug der PDS in den Bundestag wurde nicht gerüttelt ■ Aus Karlsruhe Christian Rath
Karlsruhe (taz) – Kanzler Helmut Kohl kann in Bonn weiter mit komfortabler Mehrheit regieren. Dies entschied gestern der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in Karlsruhe. Gegen das Bundeswahlgesetz, das der Union zuletzt zwölf Überhangmandate bescherte (SPD: vier), hatte die niedersächsische Landesregierung Normenkontrolle beantragt. Ohne Erfolg. Der Antrag aus Hannover scheiterte bei Stimmengleichheit (4:4) allerdings nur knapp.
Einstimmig lehnte das Verfassungsgericht dagegen eine Wahlprüfungsbeschwerde von 58 Staatsrechtsprofessoren ab. Diese hielten die Grundmandateklausel im Wahlgesetz für verfassungswidrig, die der PDS 1994 den Einzug in den Bundestag ermöglichte. Die Ostpartei hatte die Fünfprozentklausel verfehlt, aber vier Direktmandate erzielt, die laut Bundeswahlgesetz genügen, um die Fünfprozenthürde auszusetzen.
Wie schon in früheren Urteilen bestätigte das Verfassungsgericht, daß der Gesetzgeber bei der Festlegung des Wahlsystems relativ viel Freiheit besitze. Statt des jetzigen Verhältniswahlrechts könne genausogut das Mehrheitswahlrecht nach englischem System eingeführt werden. Dort erhält nur der Gewinner eines Wahlkreises einen Sitz, der Rest der Stimmen fällt unter den Tisch. Kleine Parteien haben dort fast keine Chance, ins Parlament einzuziehen. Entscheidend sei jedoch, so der Karlsruher Spruch, daß das einmal gewählte System konsequent durchgehalten werde.
Ob dies im derzeitigen Wahlrecht noch der Fall ist, darum ging der Streit. Das Bundeswahlgesetz sieht eine „personalisierte Verhältniswahl“ vor. Entscheidend für die Sitzverteilung ist das Verhältnis der Zweitstimmen; die Erststimmen spielen nur bei der persönlichen Auswahl der Hälfte der Abgeordneten eine Rolle. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustehen. Wenn eine Partei besonders viele Überhangmandate erhält, wird das Wahlergebnis verzerrt. Ob aber diese Verzerrung zulässig ist, war auch im Verfassungsgericht selbst hoch umstritten. Die Spaltung verlief exakt entlang der politischen Lager im Gericht. Die von der Union nominierten Richter hielten die Abweichung vom Proporz für „gerechtfertigt“. Es sei gerade das Anliegen der „personalisierten Verhältniswahl“, die besondere Beziehung der direkt gewählten Abgeordneten zu ihrer Wählerschaft zu bewahren. Die vier von der SPD nominierten Richter hielten jedoch die Verzerrung auch im Hinblick auf das gewählte System für „nicht erforderlich“. Die Überhangmandate müßten schließlich nicht wegfallen. Erforderlich sei dagegen ein Ausgleich entsprechend dem Proporz.
Bei Stimmenpatt „kann ein Verstoß gegen das Grundgesetz nicht festgestellt werden“, heißt es im Verfassungsgerichtsgesetz. Damit waren die Überhangmandate gerettet. Kohls derzeitige Polstermehrheit hätten aber auch die der SPD zugeneigten Richter nicht angetastet. Erst für die Neuwahl 1998 hätte nach ihrer Meinung das Wahlrecht geändert werden müssen.
Die Spaltung der Richter ist für das Gericht etwas peinlich, denn sie kann nur schlecht durch unterschiedliche weltanschauliche Prägung erklärt werden. Offensichtlich scheint hier auch Machtpolitik eine Rolle gespielt zu haben. Die vier konservativen Richter müssen sich vor allem ein BVerfG-Urteil aus dem Jahr 1988 vorhalten lassen.
Dort waren Überhangmandate nur „in engen Grenzen“ für zulässig erklärt worden – gestritten wurde damals um ein einziges Mandat. Die gestern neugezogene „Grenze“ setzte die maßgebliche Senatshälfte nun aber bei etwa fünf Prozent der Sitze an. Zulässig wären demnach also bis zu 32 Überhangmandate.
Einig war sich das Gericht dagegen hinsichtlich der PDS-Mandate. Einerseits sei die Grundmandateregelung durchaus ein Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien, die die Fünfprozenthürde verfehlen. Denn Parteien, die wie die PDS mehr als drei Direktmandate erzielen, behielten nicht nur ihre Direktmandate, sondern nähmen dann auch voll am Stimmenproporz teil. So kam die PDS doch noch mit 30 Mandaten ins Parlament.
Dieser alternative Zugang nach Bonn (und von 1999 an nach Berlin) ist nach Ansicht des höchsten deutschen Gerichts dennoch gerechtfertigt. Schließlich könnten so „besondere Anliegen“ der Wähler auch im Parlament repräsentiert und damit integriert werden. (Az. 2 BvC 3/96, 2 BvF 1/95)
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