■ Warum sich die Politik immer mehr um charismatische Persönlichkeiten und immer weniger um Inhalte dreht: Der Medien-Bonapartismus
Die Kaffeesatzleser sind wieder einmal am Werk. Wird Gerhard Schröder Kanzlerkandidat der SPD? Oder wird es Oskar Lafontaine, der seit seiner Wahl zum Parteivorsitzenden zur Überraschung vieler im stillen und ohne viel Aufhebens die SPD konsolidiert hat? Helmut Kohl hat sich kürzlich erklärt. Personen, Personen...
Je mehr eigentlich über Inhalte und Konzepte debattiert werden müßte, desto intensiver wird über Kandidaten geredet. Wegrennen vor den Problemen, Eskapismus? Nein, so einfach ist das nicht. Vielmehr hängt die zunehmende Personalisierung der Politik mit strukturellen Veränderungen der Gesellschaft, der beiden großen Parteien und der Medien zusammen.
Zum Beispiel die SPD. In keiner deutschen Partei sind die sozialen und kulturellen Gegensätze, ist die Vielfalt der Lebensstile so groß wie in ihr. Das gilt für Mitglieder und Funktionäre gleichermaßen. Da gibt es den „verrenteten“, gewerkschaftlich organisierten Bergmann im Ruhrgebiet, der konservativ denkt, fühlt und handelt wie ein Christdemokrat. Und da agiert der junge, dynamische Sozialwissenschaftler in der Großstadt, der angegrünt ist und überlegt, ob er „alternativ“ wählt. Traditionalisten und Modernisten, Materialisten und Postmaterialisten, Betriebsräte und Yuppies, Spießer und Bohemiens, Ossis und Wessis, mikrochipeuphorische Ingenieure und technikfeindliche Ökofreaks – alle finden sich unter dem Dach SPD, als Mitglieder oder in einer Wählerkoalition. Dieser „wilde Flickenteppich SPD“ reflektiert die Buntheit und Gegensätzlichkeit, Komplexität und Differenziertheit, Individualisierung und neue Klassenformation der bundesrepublikanischen Gesellschaft.
Hinzu kommt, daß die SPD alles andere ist als eine klar strukturierte, oligarchische Großorganisation, in der die Kommunikationswege von oben nach unten und von unten nach oben funktionieren. Die SPD ist eher eine lockere, große Föderation von lokalen, regionalen und bundesweiten Organisationen, von verschiedenen innerparteilichen Interessengruppen, den Arbeitsgemeinschaften (wie den Jusos, Frauen, Arbeitnehmern, Selbständigen), von traditionellen Parteiflügeln (von Linken, Rechten, Zentristen), von Patronagemaschinen und von ad hoc gebildeten innerparteilichen Bürgerinitiativen. Hinzu kommen die Fraktionen, von den Gemeinden und Kreisen über die Landtage bis zum Bundestag. Etwa 20.000 bis 30.000 institutionelle und informell organisierte Akteure kooperieren und konkurrieren unter dem Dach SPD mit- und gegeneinander – keine schlagkräftige Organisation, vielmehr „lose verkoppelte Fragmente“.
Was hält den ganzen Laden zusammen? Wie konstituieren sich Wählerkoalitionen? Ist es das Streben nach Macht? Der Kampf um Parlamentssitze und Ministerposten? Das kittet zusammen, erscheint allein aber kaum als legitim. Sind es die Programme? Die Partei redet mit vielen Zungen. Ein genuin sozialdemokratisches Projekt gibt es nicht mehr, das keynesianische Politikmodell ist ausgelaufen. Was bleibt? Charismatische Persönlichkeiten, politische Symbole und Rituale – so läßt sich die Partei integrieren, so lassen sich Wählerkoalitionen schmieden.
Und genau dies entspricht der Mediengesellschaft, in der wir leben. Bilder zählen, nicht Strukturen und Sachverhalte. Politik wird personalisiert. Was nicht auf dem Bildschirm war, hat eigentlich nicht stattgefunden. Das Image ist wichtig; nicht Kompetenz, sondern das Image von Kompetenz. Als es Helmut Kohl im Frühjahr 1994 auf dem Hamburger Parteitag der CDU gelang, den Eindruck zu vermitteln, er und seine Partei hätten die Wirtschaftsprobleme im Griff, war die Wahl schon halb gewonnen. Der Vorteil von Gerhard Schröder ist, daß er über das Image ökonomischer Kompetenz verfügt, gerade wenn er Ansehen bei Unternehmern genießt (die ihn natürlich nicht wählen) und Gewerkschafter ihn zum Kanzlerkandidaten küren wollen. Bilder, Images, Personen, human interest stories unterhalten; sie sind der Stoff, aus dem Infotainment hergestellt wird – nicht nur im Fernsehen. Mediengesellschaft, segmentierte Struktur der Gesellschaft, fragmentierte Parteien: Sie verlangen nach Integration, dürsten nachgerade nach dem großen Integrator, nach einer „charismatischen Persönlichkeit“. Wie sonst wäre es möglich, daß Helmut Kohl, alles andere als ein mitreißender Rhetoriker, seit einiger Zeit als „Charismatiker“ durch die Medien geistert und selbst der Spiegel von ihm beeindruckt ist?
Parteien wie SPD und CDU können von eben einer solchen Medienpersönlichkeit geführt werden. Sie wendet sich über die Medien, vor allem das TV, direkt an die Parteimitglieder und -sympathisanten unter Umgehung des Delegiertensystems vom Ortsverein bis zum Bundesparteitag und auf Kosten der Parteifunktionäre und der mittleren Parteielite.
So kann ein neuer Typ des Parteiführers entstehen, eine Art Medien-Cäsar, ein neuartiger Bonaparte, ein Medientausendsassa wie Ronald Reagan oder der Medienmilliardär Silvio Berlusconi, ein Politikertyp, der, weitgehend losgelöst von der Partei, seine Politik durchsetzt. Genau dies war eines der Erfolgsgeheimnisse von Bill Clinton 1996. Der amtierende Präsident, der in vielen Trainingsstunden mit Fernsehkameras umzugehen lernte, der sein Rednerpodium regelrecht umschmeichelt und auf dem Bildschirm als „compassionate“, als mitfühlend, erscheint, war politisch weit nach rechts gerückt und hatte mit „weichen“ Themen eine Mehrheit unter den WählerInnen gefunden: für die traditionellen Familienwerte, gegen Gewalt und Sex im Fernsehen und für Kinderschuluniformen. Und wie steht es mit Tony Blair, dem gelehrigen Schüler Cintons? Eine inhaltliche Botschaft ist kaum zu fassen. Aber „New Labour – New Britain“ vermittelt so etwas wie euphorische Grundstimmung, symbolische Verkörperung einer unbestimmten Botschaft in charismatischer Persönlichkeit. „Cäsarisierung“ und „Bonapartisierung“ der Politik sind keine willkürliche, autokratische Entscheidung von Parteiführern, sondern ein Gebot im Medienzeitalter, in segmentierten, unübersichtlichen gesellschaftlichen Verhältnissen mit fragmentierten Parteien. Auch Vorstandsvorsitzende transnationaler Konzerne kommunizieren so mit ihren Beschäftigten und der Öffentlichkeit. Warum sollte diese Entwicklung an SPD und CDU vorbeigehen? Insofern sind Spekulationen über Kanzlerkandidaten nicht nur unterhaltsam – sie besagen etwas über den Zustand unserer Politik. Peter Lösche
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