: Blindenschrift für Bilderstürmer
Stehende, wandernde, sich überblendende Bilder: Sigmar Polkes großangelegte Retrospektive in Bonn ■ Von Ulf Erdmann Ziegler
Man kann wirklich nicht behaupten, der Mann habe keine Ideen. Was Sigmar Polke in mehr als dreißig Jahren gemalt, getüftelt, genäht und geschüttet hat, läuft hinaus auf eine gigantische Collage in 220 Teilen. Ein wüstes Werk. Ein unvorbereiteter Betrachter würde wahrscheinlich lange brauchen, um zu erkennen, daß es sich um die Ausstellung eines einzelnen Künstlers handelt. „Die drei Lügen der Malerei“ heißt, etwas kokett, die Retrospektive des Kölner Künstlers Polke, die ihm mit großem Aufwand die Kunst- und Ausstellungshalle des Bundes eingerichtet hat. Während der Kunstsommer mit der Biennale in Venedig, der documenta in Kassel und den dritten Skulpturprojekten in Münster ein voraussichtlich riesiges internationales Publikum anziehen wird, macht die Retro in Bonn das Werk des Zeitgenossen Polke besser sichtbar als das jedes und jeder anderen.
Polke hat über sich die griffige Anekdote in die Welt gesetzt, er habe als Zwölfjähriger (also 1953) von Ost- nach Westberlin mit geschlossenen Augen gewechselt; als Passagier der S-Bahn, der nicht identifiziert wird, weil er vermeintlich schläft.
Tatsächlich hat sein Werk etwas von der Geschwindigkeit des Visuellen hinter geschlossenen Lidern: ein Hineinrutschen in stehende, wandernde und sich überblendende Bilder. Dabei konkurriert das Layout der Morgenzeitung mit Muttis Tischdecke. Der Engel der Geschichte zappelt im Wackelpudding. Und durch die düsteren Schlieren eines Acid-Trips schimmert etwas Helles: das Morgengrauen, oder die Gewißheit, versagt zu haben.
Ein störrischer Schüler muß er gewesen sein, eingeschrieben 1961 an der Kunstakademie Düsseldorf, wo das farbenfrohe Informel seiner Lehrer Gerhard Hoehme und Karl Otto Götz eine gewisse Vergeßlichkeit des Adenauerstaats umrankte: „vertraut verspielt / verspielt vertraut / und nicht zu laut“ (mit Degenhardt).
Schon im vierten oder fünften Semester war der Dissens auf griffige Formeln gebracht. Ein kleines weißgelbliches Lackgemälde, in der Mitte geteilt und mit zwei symmetrischen Markierungen versehen, gab den „(Hausapotheken-) Schrank“. So hieß das Bild. Ein Blick auf fünf Lederbuchrücken im sanften Licht einer altertümlichen Bibliothek zeigte „Goethes Werke“. Auf jedem der Buchrücken stand „Goethe“. Und eine unverbindlich über ein Hochformat geschnörkelte Spur bräunlicher Stäbchen endete rechts oben vor dem grinsenden Mund eines kurios simplifizierten Profils: „Der Wurstesser“. Die Konkretion kam nicht in Gestalt der Wirklichkeit, sondern als Karikatur auf den Kunstanspruch der Künste.
Die Renitenz war verbrüdert mit einem investigativen Begehren: Zeitungsbilder von Gewerkschaftsboß Kluncker und Bandchef Edelhagen wurden aufgeblasen zu präzise (von Hand) gepunkteten Porträts. Frivole Damen am Strand lächeln bemüht durch das absurd vergrößerte Moiré einer blassen Farbvorlage. Und dasselbe Verfahren, angewandt auf eine „Menschenmenge“ (jetzt schon meisterlich, 1969), führt zu eigentümlichen schwärzlichen Ballungen und Konfigurationen, die teilweise aussehen wie zur Tarnung verstümmelte Hakenkreuze. „Das dynamische Durcheinander“, hat der amerikanische Kritiker Peter Schjeldahl vor ein paar Jahren zusammengefaßt, „wirkt wie die Arbeit eines Blinden mit viel Glück.“ Polke betrieb eine buchstäbliche Diskurskritik, eine Kunst-Braille der Massenmedien. Selbst dreißig Jahre später wirkt die Tautologie verheerend: Am Boden des Trivialen haust die Trivialität.
Die Bonner Ausstellung nutzt die flacheren, randständigen Trakte des logischen (und schwülstigen) Baus des Architekten Gustav Peichl, um das Frühwerk (bis 1969) gründlich vorzustellen. Wo das südliche und das westliche Kabinett aufeinanderstoßen, ist in einem Extraraum das „Vitrinenstück“ von 1966 installiert. Abgesehen von der Vitrine selbst handelt es sich um eine Tafelarbeit, die die Wandzeitungen sozialistischer Betriebe – in ihrer Einfalt – fast unmerklich nachstellt. Auf einer Tafel sieht man eine Fotografie des jungen Polke, der sich mit ausgestreckten Zeigefingern Untertassen auf die Ohren preßt. Sein Blick, durch eine Brille (ein bißchen wie die Peter Fondas in „Easy Rider“), verrät, daß er lauscht. Der begleitende Text ist ein Schnipselwerk von Schreibmaschinentexten, die den Maler als Befehlsempfänger „höherer Wesen“ darstellen, die ihn dirigieren und „bestrafen“ wollen. Darin heißt es zum Beispiel: „Später verlangten sie auch von mir, andere Dinge zu tun/ So bekam ich eines Tages um 9 Uhr den Befehl, nichts zu essen./ Oder ich sollte von einer ganzen Schachtel Streichhölzer die Schwefel-/kuppen mit einem Messer abschaben./ Ein ander mal bekam ich den Auftrag, einige bestimmte frühere Arbeiten wieder/ zu vernichten. // Ich weiss jetzt auch, dass die höheren Wesen es sind, die mir das Rauchen/ verbieten. (Ich habe in meinem Leben noch nicht geraucht)“.
Letztendlich befehlen die höheren Wesen: „Keinen Blumenstrauss! Flamingos malen!“, und es finden sich im gleichen Raum zwei Belege mit Flamingobildern, Pseudogemälde, flüchtiges Dekor.
Die Konstruktion des „Sender“-Wahns ist überzeugend, vor allem in seiner Widersprüchlichkeit. Mir ist bekannt, daß Polke-Fans über diesen Streich köstlich zu lachen pflegen. Aber was bedeutet es, wenn es einem 25jährigen gelingt, glaubhaft den Psychotiker zu geben?
Es gibt – tatsächlich – in diesem Werk einen entschiedenen Hang, das Fremde anzuziehen und das Subjektive zu negieren. Angefangen mit den „Reiherbildern“ (ich lese im Titel auch: „Kotz-Bilder“), die auf die senkrechten Muster blasser Wolldecken gemalt sind, wie man sie in den sechziger Jahren hatte. Tatsächlich werden die Gemälde auf Stoffen – Tischdecken, Gardinenstoffen, Bezügen – zu Polkes Markenzeichen; zu einer Technik gerade diesseits von Stil. Eine Szene aus „Alice im Wunderland“ (1971) ist als girlandige Illustration auf gepunkteten Stoff gesetzt, flankiert von Stoffbahnen mit Fußballmotiven. Das „weiße Rauschen“ medialer Übertragung ist übergegangen in industriellen Lärm, gegen den sich die Malerei behaupten muß. Dem unterlegten Klischee entgegnet Polke mit einem anderen Klischee, das die motivische Symbiose knapp, manchmal auch weit, verfehlt.
Die Angst zu versagen ist verflogen. Die Kunst ist plötzlich nicht mehr Gegner, sondern Quelle: Figuren von Goya und Hoogstraeten tauchen auf, in plakatgroßer Verzerrung. Lucky Luke hat ausgedient; die Atomkriegspekulationen um das Hattenbacher Dreieck schlagen sich in einem Fünfteiler mit Reagan-Motiv nieder, der mit einem „Sargdeckel“ unterstrichen ist. Gleichzeitig (man sagt ihm Kommuneerfahrungen in den 70ern nach) berührt er die Esoterik. Oder sie ihn. Man kann es nicht unterscheiden. Polke gleitet vom Ikonoklasmus in einen Bilderfluß. Die höheren Wesen hören gar nicht mehr auf zu quasseln.
Während man ihn in der Flamingo-Zeit in der alten Malerklemme sieht: Was kann man denn noch malen?, lautet die Antwort zehn Jahre später: Alles! Über das Triviale kommt er zum Material – zum Stoff, zum Motivzitat – und dann, auf beiden Ebenen, grast er die Themen ab, bis man sich fragt, welche er für andere Maler noch übrigzulassen gedenkt. Die einzelnen Werke, in Museumsausstellungen und Privatsammlungen von kaum zu überwindender Widerborstigkeit, lesen sich in der Retrospektive als wucherndes Netzwerk eines manischen Bewohners des Ateliers. Die Formate werden groß, riesig, die Leinwände transparent, sie werden von vorn und von hinten bemalt, geleimt und begossen. Nun ist so gut wie alles möglich, auch, die geborgten Illustrationen ganz wegzulassen zugunsten reiner Malerei. Polke, der Skeptiker, zeigt sich als geschickter Action-painter im großen Stil. Und wer nicht glaubt, daß das zurückführt zur Kunstreligion, muß nur die Ausstellung von ihrem Ausgang her betreten, wo ein blau gewölktes, lichtes Riesenformat von chagallscher Aura in ein Halbrund gebaut ist, mit dramatischem Tageslicht aus dem spitzen Kegel, der ins Dach des Gebäudes durchstößt.
Längst hat sich Polke losgemacht vom Regulativ des verfremdeten Trivialen; was ihn aber nicht verlassen hat, ist der Kampf mit der Häßlichkeit. Er will sie; er zieht sie an; höhere Wesen haben ihm befohlen, auf einem rosasilbernen Flauschteppich mit Wandfarbe herumzuplatschen (“Remingtons Museums-Traum ist des Besuchers Schaum“, 1979). Fiese violette Wolken in einem „Chinesischen Meer“ (1983). Und die Laterna- magica-Installation einer „Geschichte vom Hund“ (1988-92) verhunzt eine mißlungene Bildergeschichte zu einem Jahrmarktstück schlieriger Farben, deren unglücklicher Auftrag gleich beidseitig zu betrachten ist.
Und ja – irgendwie war es nicht zu vermeiden –, entsteht im Jahr 1982 ein riesiges Format, das „Lager“ heißt, und dessen Zitatmotiv den Todesstreifen eines KZs zeigt und dessen Materialangabe im Katalog lautet: „Acryl, Pigment, Brandlöcher auf Dekostoff und Wolldecke, Holzlattengestell“. Über vier Meter hoch – im Besitz des Museum of Fine Arts in Boston –, ist dies der frontale Versuch, die „schwarze Milch der Frühe“ zu visualisieren. An einer ganz anderen Stelle des Rundgangs stehen düster schillernde Bilder von Hochsitzen, die die Bewachungsthematik ebenfalls anstacheln. Es gibt zwei Bilder, die sich mit Flüchtlingen beschäftigen. Die bildlichen Ambivalenzen – transparente Leinwand, rückwärtig aufgebrachte Farbschlieren – sind darin reine Routine. Polke avanciert zum Bedenkenträger, nahe am blasierten Ernst Anselm Kiefers.
Dies ist allerdings nicht etwa der Clou der Ausstellung, die gar keinen hat. Durch das Werk zieht sich ein Paradox; ein Hang zur Auflösung und zur Manifestation zugleich. Es wird größer und brutaler, pedantischer und verhangener, freier und verfahrener. In verblüffender Logik steht dieses Werk zu dem Gerhard Richters, mit dem zusammen Polke vor dreißig Jahren einen „Kapitalistischen Realismus“ praktizierte, also Ideologiekritik mit den Masken von Eiferern. Richters Werk kehrt sich aber ganz zur malerischen Reflektion; es läßt keinen Schritt aus. Polke erfindet jeden Tag die Regeln neu: er lernt, aber nicht aus Fehlern. Richter steckt die Akademie in die Tasche; Polke jagt sie jeden Tag zum Teufel.
Bei einer überragenden Präsentation unter Mitwirkung des Künstlers – dies war wohl das härteste Stück Arbeit auf seiten der Institution –, kommt der antisystematische Zug (oder Zwang) in Polkes Werk hervorragend rüber. Der korpulente Hüne mit dem Eierkopf mied die Presse und stellte sich am Abend der Eröffnung dann doch dem Volk: „So viele Leute hier. Ich kenne aber gar keinen.“ Er trägt einen Camcorder um den Hals und zeigt sich routiniert im Weggucken und Schnuteziehen. Der Scherzkeks. Er lacht nicht.
„Sigmar Polke: Die drei Lügen der Malerei, Retrospektive“. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH [heißt wirklich so!], Bonn. Kurator: Martin Hentschel.
Bis zum 12. Oktober. Dienstag und Mittwoch bis 21 Uhr. Vom 1. November bis zum 15. Februar 1998 in Berlin (Hamburger Bahnhof).
Der Katalog enthält den Reprint eines wichtigen biographischen Textes von 1976. 376 Seiten, Cantz, 78 DM
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