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Der Sozialstaat Bundesrepublik rutscht ab

■ Im UN-Bericht über die menschliche Entwicklung liegt Deutschland auf Platz 19

Bonn (taz) – Der gestern in Bonn vorgestellte UN-Bericht über die menschliche Entwicklung wartet für die Bundesrepublik mit wenig schmeichelhaften Zahlen auf: Sie rutschte von Platz 11 im Jahr 1994 auf Platz 19 ab. Spitzenreiter ist Kanada, gefolgt von Frankreich und Norwegen. Das Schlußlicht bilden Niger, Ruanda und Sierra Leone. Der UN-Armutsindex ist komplexer als volkswirtschaftliche Erhebungen. Statt des Einkommens werden drei Faktoren zugrunde gelegt: langes und gesundes Leben, Wissen und angemessener Lebensstandard.

Kaum überraschend, daß Armut sich nicht nur in den unterentwickelten Ländern, sondern auch immer stärker in den Industrienationen ausbreitet. Dort leben mehr als 100 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, mehr als 5 Millionen sind obdachlos und 37 Millionen ohne Arbeit. Seit 1979 verdoppelte sich in den EU-Mitgliedsstaaten deren Zahl auf elf Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. Die Einschätzung des Berichts, daß die Armut in den letzten 50 Jahren weitaus stärker zurückgegangen ist als in den letzten 500 Jahren, wird durch das Zahlenmaterial zurechtgerückt. Rund 1,3 Milliarden Menschen, fast ein Drittel der Weltbevölkerung, müssen mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen, mehr als 800 Millionen haben nicht genug zu essen, dieselbe Zahl muß auf gesundheitliche Fürsorge verzichten, und 840 Millionen Erwachsene können weder schreiben noch lesen.

Nur einige Länder – wie etwa Chile oder Kolumbien – konnten Anfang der 90er die Armut mindern, im Rest Lateinamerikas lag sie zum Teil über den Werten der 70er Jahre. Auch Asien bleibt, trotz des zum Teil rasanten Wirtschaftswachstums, die Armenregion dieser Welt: 515 Millionen Menschen verfügen über weniger als einen Dollar pro Tag. Die Auflösug des Ostblocks hat sich in der einstigen Sowjetunion dramatisch auf die Armutsentwicklung ausgewirkt. Lebten dort 1986 vier Millionen unterhalb der Armutsgrenze, sind es heute schon 120 Millionen. Südafrikas Vizepräsident Thabo Mbeki mahnte, die Industrienationen mögen die Ärmsten der Ärmsten „in ihrem eigenen Interesse nicht weiter ausgrenzen“. Ähnlich unschlüssig gibt sich auch der UN- Bericht. Zwar wird die Liberalisierung als Chance für ärmere Staaten begriffen – durch Konzentration auf einfache Produkte, zu deren Herstellung billige Arbeitskräfte gebraucht werden, wodurch die Einkommenslage breiter Bevölkerungsteile verbessert würde. Zugleich verzeichnet UNDP auch Negativbeispiele – etwa die Länder Osteuropas und der GUS, in denen sich das Einkommensgefälle durch die Öffnung zum Weltmarkt verschärfte. Severin Weiland

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